Gesellschaft für Wirtschaft und Ethik

Preisstabilität erst nach geldpolitischer Umkehr

Elmar Nass

Die Preissteigerungsrate in Deutschland war im Jahr 2021 mit 3.1% so hoch wie zuletzt 1993, und das im Jahr 2022 mit weiter steigender Tendenz über 5%. Die Inflation als Folge der lockeren Geld- und Finanzpolitik könnte nun Fahrt aufnehmen. Zahlreiche geld- und finanzpolitische Pfade haben den Weg dazu bereitet. In Folge der großen Finanzkrise erleben wir eine fortdauernd expansive Politik, inzwischen mit Negativzinsen, großen Rettungspaketen und, nachdem das Zinsinstrumentarium der EZB ausgereizt war, mit massiven Anleihekäufen. Die Corona-Krise war Anlass für eine immense Erhöhung der Staatsschulden. Sie belebte auch wieder die Diskussion um Euro-Bonds, die nunmehr zu Corona-Bonds umgetauft wurden und mit dem am 21. Juli 2020 beschlossenen Wiederaufbau-Fonds in Höhe von 750 Mrd. € schleichend eingeführt wurden. Die Immobilienpreise sind explodiert. Und bei den TARGET2-Salden stehen etwa für Deutschland am 30. November 2021 bei der EZB 1.128 Mrd. € zu Buche. 

Bekanntlich ist es das Ziel einer (vertragsgemäß) von sonstigen politischen Interessen autonomen EZB, Preisstabilität im Euro-Raum zu gewährlisten. Doch inzwischen finden andere Deutungen Gehör. So applaudiert Ralph Luetticke, dass expansive Geldpolitik positive Verteilungseffekte erziele. Arbeitslosigkeit werde gesenkt und somit Ungleichheit reduziert, ohne inflationstreibend zu sein.1 Die Preise für Vermögenswerte (z.B. Immobilien) gehen dadurch zwar in die Höhe, doch würde davon ein breiter Bevölkerungsanteil profitieren. So werde die Volkswirtschaft stabilisiert, was irenische Effekte mit sich bringe und sozialethisch erwünscht sei. Für eine solche Stabilisierung seien auch die Ankaufprogramme der EZB unverzichtbare Instrumente. Demgegenüber würde eine restriktive Politik Einkommens- und Vermögensungleichheit erhöhen (vor allem wegen der negativen Wirkungen auf den Arbeitsmarkt). Solche neu-keynesianischen Denkmodelle verteidigen die expansive Politik als Stabilisator der Volkswirtschaft. Sie haben egalisierende Effekte zum Ziel, erklären Irenik über expansiv erzielte Arbeitsmarkteffekte und sehen die geldpolitische Verantwortung im Dienst solcher Ziele. Auch öffnen sie die Tür für weitere politische Verantwortlichkeiten der Geldpolitik, wie nun die Bekämpfung des Klimawandels. So wünschenswert etwa dieses von Christine Lagarde im letzten EZB-Jahresbericht proklamierte Ideal auch sein mag, so wenig gehört dessen Erreichung in den Bereich der Geldpolitik. Denn eine solche Zieleerweiterung öffnet die Türe für noch mehr sozialpolitisch erstrebenswerte Ziele sowie für ein parteipolitisches Hineinregieren hinsichtlich der Interpretationen und Abwägungen. 

Der inzwischen resignierte Bundesbankpräsident Jens Weidmann trat solchen Interpretationen entgegen, indem er gerade auch in der Corona-Krise die Wahrung der Preisstabilität als alleiniges Ziel der Geldpolitik ins Zentrum stellte.2 Sie dürfe nicht durch andere Ziele relativiert werden und habe stattdessen selbst langfristig positive Effekte auf Wohlstand und Arbeitsmarkt. Die Volkswirtschaft als ganze zu stabilisieren oder das Klima zu retten, kann dann nicht Aufgabe der Zentralbanken sein. Geldpolitik dürfe sich demnach nicht übernehmen und ihren gegebenen Auftrag ohne demokratisches Mandat auch nicht überschreiten. Weidmann fordert schon lange und wiederholt eine Abkehr von der expansiven Geldpolitik. Die von den Neu-Keynesianern dagegen betonten Arbeitsmarkteffekte expansiver Politik sind bekanntlich kurzfristiger Natur. Die Vermögenswirkungen führen zumindest in Deutschland eher zu mehr Ungleichheit, weil Medianhaushalte nicht Eigentümer einer Immobilie sind und deshalb nicht hinreichend von den Wertsteigerungen profitieren. Zudem muss in absehbarer Zukunft mit einem Platzen der Immobilienblase gerechnet werden, und das mit gravierenden rezessiven Folgen für die Gesamtwirtschaft. Vor allem aber steigt das Inflationsrisiko beständig an. Geldentwertung hat bekanntlich verheerende Folgen für alle Sparer, Rentner und den internationalen Handel. Sie ist verbunden mit dem Verlustig-Werden der Grundfunktionen des Geldes und des Vertrauens in die Wirtschaft insgesamt. Einer freiheitlichen Position entsprechend hat deshalb die unbedingte geldpolitische Verantwortung für die Preisstabilität eine irenische Wirkung, die subsidiär flankiert werden muss durch eine solide Finanzpolitik, die wiederum nicht auf Strohfeuer, sondern auf langfristige Wirkungen setzt.

EZB und EU haben in den vergangenen Jahren eine Fülle von Mandatsübertretungen und Regelverstößen mit juristischen Spitzfindigkeiten und diplomatischem Geschick überdecken können (etwa Staatsfinanzierung durch Zentralbankgeld, Relativierung des geldpolitischen Ziels der Geldwertstabilität, zunehmende politische Einflussnahme auf die EZB und damit der Verlust ihrer Autonomie, politische Abhängigkeit der EZB in der Niedrigzinspolitik mit den Anleihekaufprogrammen, schleichende Einführung von Corona-Bonds und Schuldenunion, Umverteilungslogik zulasten wirtschaftlich stärkerer Länder und Zurückdrängung von Subsidiaritäts- und Soliditätslogik, Verschuldung des europäischen Haushalts mit den neuen Aufbauprogrammen u.v.a.m.)3. Die Politik des fortlaufenden Vertrags- und Vertrauensbruchs hat während der Corona-Krise eine Zuspitzung erfahren. Eine solche auch tugendethisch hoch problematische Strategie hat viele Gründe. Einige Hypothesen dazu seien hier zur Diskussion gestellt. 

Hypothese 1: Es liegt die Vermutung nahe, dass nationalstaatliche Interessen die ideologische Ausrichtung der EZB unter den Präsidentschaften von Mario Draghi und Christine Lagarde maßgeblich beeinflusst haben und weiter beeinflussen. Italienische und französische Interessen und Interpretationen zum Mandat der Zentralbank und deren gekonnte Umgehung sowie entsprechende Umverteilungspolitik zulasten von Deutschland u.a. wirtschaftlich stärkerer Länder lassen sich im fortgesetzt expansiven Kurs der Geldpolitik, der sich abzeichnenden Schuldenunion und im wachsenden Regierungseinfluss auf die Geldpolitik unschwer erkennen. Solche Klientelpolitik schadet nicht nur dem Vertrauen in den Euro, sondern auch dem viel beschworenen europäischen Geist. 

Hypothese 2: Ein weiterer Grund liegt in einem vorherrschenden neu-keynesianischen Denken. Diese Sicht auf ein weiter zu interpretierendes Mandat der EZB mit entsprechenden Zieleabwägungen ist im Blick auf die Europäischen Verträge illegal. Schmerzliche Erfahrungen der Vergangenheit haben uns gelehrt, die Geldwertstabilität als autonomes Ziel der Zentralbank vor nationalstaatlichen und parteipolitischen Interessen und der Abwägung mit anderen Zielen zu schützen. Nur so kann das Vertrauen in die Geldordnung tatsächlich stabilisierende Wirkung auf Wirtschaft und Gesellschaft entfalten. Eine Abkehr von dieser klar definierten Aufgabenteilung macht die Geldpolitik zu einem Erfüllungsgehilfen regierungspolitischer Interessen und wird das Vertrauen in die EZB und die Währung weiter erschüttern oder gar zerstören.

Hypothese 3: Diese gefährlichen Konsequenzen sind der EZB bewusst. Neuere Studien haben den Zusammenhang zwischen Vertrauen und drohender Inflation bestätigt. So kommen Sathya Mellina und Tobias Schmidt im Auftrag der Bundsbank im Jahr 2018 zu dem wenig überraschenden Ergebnis: „We find that hight levels of trust in the ECB increase the probability of individuals expecting unchanging prices and lower the likelihood of anticipating rising prices“. 4Ergo muss die EZB um jeden Preis Vertrauen in ihre Politik schaffen, um nicht offensichtlich ihr Mandat zu verletzen, damit Vertrauen zu zerstören und so erst recht eine Inflationsschraube in einem Teufelskreis des Misstrauens in Gang zu setzen. Zur Abwehr gegen diesen Vertrauensverlust sind zwei Wege gangbar: a) Entweder werden weiterhin die Übertretungen der eigenen Kompetenzen spitzfindig vertuscht und bestehende Inflationsgefahren oder sich abzeichnende Blasen kleingeredet. Dieser bisher beschrittene Weg ist nicht nur tugendethisch verwerflich, sondern mit seinen wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen hoch gefährlich, weil er Vertrauen bewahren will, indem er Vertrauen missbraucht. b) Oder aber es wird endlich mit offenen Karten gespielt. Dazu müssten Umgehungsstrategien, Mandatsübertretungen und Tricksereien der Vergangenheit ehrlich bekannt und konsequent abgestellt werden. Dadurch wird (als Folge der zutage tretenden Missstände) zunächst kurzfristig Vertrauen erschüttert, und es müssten Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden. Aber dies ist der einzige Weg, um langfristig wieder Vertrauen in die Geldpolitik herzustellen. Und es müsste baldmöglichst mit einem moderaten Rückkauf der Staatsanleihen begonnen werden. Dann kann die EZB mit neuem Personal und mit neuem Geist zu ihrem Mandat zurückkehren. So nur kann sie – aufbauend auf einem wieder erarbeiteten und somit verdienten Vertrauen – ein verlässlicher Hüter der Geldwertstabilität werden, wie es einst die Bundesbank war. 

1Vgl. Luetticke, Ralph (2018): Transmission of Monetary Policy with Heterogeneity in Household Portfolios, Discussion Papers 1819 hg. von Centre for Macroeconomics, University College London sowie in diesem Sinne auch o.V. (2016): Verteilungseffekte der Geldpolitik, in: Deutsche Bundesbank (Hg.): Monatsbericht September 2016, 15-38. 

2Vgl. Weidmann, Jens (2021): Wird die Coronakrise die wirtschaftliche Ungleichheit vertiefen? Eröffnungsrede im Rahmen der International Conference on Household Finance, virtuell am 29.04.2021, hg. von Deutsche Bundesbank, Frankfurt a.M.

3Vgl. Sinn, Hans-Werner (2021): Die wundersame Geldvermehrung. Staatsverschuldung, Negativzinsen, Inflation, Freiburg i.Br.

4Mellina, Sathya / Tobias Schmidt (2018): The role of central bank knowledge and trust fort he public’s inflation expectations. Discussion Paper No. 32/2018 hg. von Deutsche Bundesbank, Frankfurt a.M., 31.

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