Gesellschaft für Wirtschaft und Ethik

Wirtschaftsberichterstattung und Fertilität– eine Untersuchung zu Italien und Deutschland

Im letzten Jahrzehnt war in den meisten europäischen Ländern ein allgemeiner Rückgang der Geburtenrate zu verzeichnen. Dieser allgemeine Trend scheint über die individuellen  und  kontextuellen  wirtschaftlichen  Bedingungen hinauszugehen. Er betrifft sogar die nordischen Länder, die nach der Großen Rezession keine harten wirtschaftlichen Be- dingungen erlebten, welche normalerweise die Fertilitätsraten drücken.

Die in der Literatur üblicherweise herangezogenen wirtschaftlichen und arbeitsmarktbezogenen Prädikatoren der Fertilität erklären die aktuellen Fertilitätstrends nicht vollständig. 3,4 

Die Forscher fragen sich, ob es Kräfte gibt, die Fertilitätsentscheidungen antreiben, die bisher nicht berücksichtigt wurden. In der Tat treffen Menschen ihre Lebensentscheidungen, einschließlich der Entscheidung für ein (weiteres) Kind, nicht nur auf der Grundlage objektiver wirtschaftlicher Zwänge, sondern auch auf der Grundlage ihrer gesellschaftlich konstruierten Vorstellungen von der Zukunft.5  Die täglichen Gespräche mit der Familie und Gleichaltrigen über die Entwicklung der nationalen Wirtschaft sind für die Ausrichtung dieser Vorstellungen von entscheidender Bedeutung und werden von der wichtigsten Quelle für wirtschaftliche Informationen beeinflusst: den Medien.6 Die Medien bestimmen den öffentlichen Diskurs, indem sie die zu berichtenden Fakten auswählen und ihnen in ihrer Berichterstattung mehr oder weniger Bedeutung beimessen. Darüber hinaus beeinflussen der Ton und die Perspektiven (Frames), mit denen Medieninhalte gestaltet werden, deren Wahrnehmung durch das Publikum.7

Die Entscheidung, ein (weiteres) Kind zu bekommen, ist immer mit Unsicherheit verbunden. Heutzutage haben jedoch die zahl- reichen  technologischen  Veränderungen,  die  Globalisierung, die große Rezession und die COVID-19-Pandemie die wahr- genommene (wirtschaftliche) Unsicherheit noch verstärkt. Die Menschen benötigen daher zunehmend Informationen über die  wirtschaftlichen  Bedingungen,  um  ihre  Entscheidungen zu treffen. Angesichts der zunehmenden wirtschaftlichen Ungewissheit in den heutigen Gesellschaften können die von den Medien vermittelten Informationen über die Wirtschaft daher eine wichtige Rolle bei der Beeinflussung von Fertilitätsentscheidungen spielen.8

Dies ist der Kerngedanke zweier neuerer Studien zur Fertilität. Sie untersuchen den Zusammenhang zwischen Wirtschaftsberichterstattung und individueller Fertilität in zwei westeuropäischen Ländern unter Berücksichtigung der individuellen und kontextuellen wirtschaftlichen Bedingungen. Die erste Studie befasst sich mit dem italienischen Fall und verwendet Media Tenor-Daten über die Wirtschaftsberichterstattung in den Abendnachrichten (TG1) des meistgesehenen Fernsehsenders (Rai1)9. In der zweiten Studie werden Media Tenor-Daten zur Wirtschaftsberichterstattung  in  den  auflagenstärksten  deutschen Wochenzeitschriften (Der Spiegel, Focus und Bild am Sonntag) verwendet, um deren Zusammenhang mit der individuellen Fertilität in Deutschland zu untersuchen.10 Die Fallstudien sind besonders interessant, da Deutschland im europäischen Szenario durch einen außergewöhnlichen Anstieg der Fertilität hervor sticht, während Italien durch extrem niedrige Fertilitätsraten auffällt. In beiden Ländern ist die Häufigkeit der Wirtschaftsnachrichten von allen Nachrichten negativ mit der Wahrscheinlichkeit korreliert, ein (weiteres) Kind zu bekommen. Wenn die Zahl der negativen Wirtschaftsnachrichten höher ist, wird eine geringere Empfängniswahrscheinlichkeit beobachtet, während das Gegenteil der Fall ist, wenn mehr positive Nachrichten gemeldet werden.

Interessanterweise  hängt  das  Ausmaß dieser Assoziationen wahrscheinlich vom Kontext ab: In Italien, wo die wirtschaftliche  Lage  eher  turbulent  ist,  ist eine Verbesserung der Berichterstattung über  die  Wirtschaft  wichtiger  als  eine Verschlechterung, während in der stabilen deutschen Wirtschaft negative Nach- richten die Fruchtbarkeit mehr hemmen als positive sie fördern. Daraus lässt sich ableiten, dass je ungewöhnlicher der Ton einer Nachricht im Vergleich zum Standardzustand  der  nationalen  Wirtschaft ist, desto entscheidender scheint sie das Fertilitätsverhalten zu beeinflussen, indem sie eine „Distanzerfahrung“ zur gewohnten Routine bietet11. Obwohl es sich hierbei  um  Korrelationsstudien  ohne Kausalaussagen handelt, stützen sie die Hypothese, dass Medienberichte über die Wirtschaft eine entscheidende Rolle bei der  Gestaltung  von  Fertilitätsentscheidungen spielen.

Quellen:

1   Department of Statistics, Computer Science, Applications “G. Parenti”, University of Florence, Viale Morgagni, 59, 50134 Florence, Italy.

2   Media Tenor International AG, Talacker Strasse, 41, 8001 Zürich, Schweiz.

3   Alderotti, G., Vignoli, D., Baccini, M., & Matysiak, A. (2021). Employment uncertainty and fertility: A network meta-analysis of European research findings. Demography, 58, 871-900. https://doi.org/10.1215/00703370-9164737

4   Comolli, C. L. (2017). The fertility response to the Great Recession in Europe and the United States: Structural economic conditions and perceived economic uncertainty. Demographic Research, 36, 1549-1600.

5   Vignoli, D., Bazzani, G., Guetto, R., Minello, A., & Pirani, E. (2020). Uncertainty and narratives of the future. A theoretical framework for contemporary fertility. In R. Schoen (Ed.), Analyzing contemporary fertility (pp. 25-47). Berlin, DE: Springer.

6   Joris, W., d’Haenens, L., & Van Gorp, B. (2014). The euro crisis in metaphors and frames: Focus on the press in the low countries. European Journal of Communication, 29,608-617.

7   de Vreese, C. H. (2005). News framing: Theory and typology. Information design journal & document design, 13, 51-62.

8   Vignoli, D., Guetto, R., Bazzani, G., Pirani, E., & Minello, A. (2020b). A reflection on economic uncertainty and fertility in Europe: The narrative framework. Genus, 76(28).

9   Guetto, R., Morabito, M.F., Vignoli, D., & Vollbracht, M. (2021). Media coverage of the economy and fertility (Working Paper No. 12). University of Florence, Department of Statistics, Computer Science, Applications “G. Parenti”, Florence.

10  Morabito, M. F., Guetto, R., Vollbracht, M., and Vignoli, D. (2022). The relationship between economic news and fertility: the case of Germany. In A. Balzanella, M. Bini, C. Cavicchia, and R. Verde (Eds), Book of the Short Papers (pp. 1002-1007). Pearson.

11  Mische, A. (2009). Projects and possibilities: Researching futures in action. Sociological Forum, 24, 694-704.

Die Autorin:

Maria Francesca Morabito: Postdoctoral Researcher at the University of Florence

von Maria Francesca Morabito1, Raffaele Guetto1, Matthias Vollbracht2, Daniele Vignoli1

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