Von Ulrich van Suntum
Das neue Infektionsschutzgesetz erweitert die Befugnisse des Bundes auf Kosten der Länder bei der Pandemie-Bekämpfung. Damit soll eine überall einheitliche Strategie anstelle des bisherigen „Flickenteppichs“ durchgesetzt werden. Was auf den ersten Blick plausibel klingen mag, ist aber bei genauerem Hinsehen eher kontraproduktiv. Denn sowohl das Infektionsgeschehen als auch seine Ursachen sind regional sehr unterschiedlich. So reicht die Spannweite der 7-Tage-Inzidenz zwischen den Bundesländern derzeit von 71 in Schleswig-Holstein bis 228,5 in Thüringen (vgl. die Abbildung). Noch viel größer sind die Unterschiede in den einzelnen kreisfreien Städten und Landkreisen. Trauriger Spitzenreiter ist derzeit Hof mit einer Inzidenz von 587, verglichen mit lediglich 28 im Kreis Schleswig-Flensburg.
Quelle: Robert Koch Institut, täglicher Lagebericht v. 13.4.21
Alle über einen Kamm?
Macht es da wirklich Sinn, alle über einen Kamm zu scheren? Zwar sollen die einheitlich härteren Maßnahmen erst bei Überschreiten des (recht willkürlich anmutenden) Schwellenwertes von 100 greifen. Dies trifft aber derzeit auf gut drei Viertel aller Kreise zu, so dass insoweit kaum Spielraum mehr für differenzierte Maßnahmen bleibt. Damit fällt vor allem auch die Möglichkeit weg, im Trial and Error-Verfahren herauszufinden, was wirklich hilft und was nicht. Denn darüber gibt es trotz der inzwischen seit mehr als einem Jahr andauernden Pandemie noch immer keine gesicherten Erkenntnisse, zumindest keine, welche von der Politik anerkannt und beherzigt würden. Stattdessen muten viele Maßnahmen wie Maskenpflicht im Freien und Geschäftsschließungen nach Branchen statt nach Hygienekonzepten eher wie hilflose Symbolpolitik an, wie kürzlich auch führende Aerosolforscher in einem offenen Brief an die Bundesregierung ausgeführt haben.
Viel näher würde es angesichts dieser Faktenlage liegen, die Verantwortung für die Corona-Maßnahmen noch stärker zu dezentralisieren. Denn auch innerhalb eines großen Bundeslandes wie etwa NRW sind das Infektionsgeschehen und seine Ursachen höchst unterschiedlich, so dass eher regional differenzierte statt wie bisher landesweit einheitliche Maßnahmen naheliegen. Allerdings muss dies dann auch mit regionalen Mobilitätsbeschränkungen einhergehen, damit die dezentralen Einschränkungen nicht durch Pendeln unterlaufen und das Virus so von den Hotspots in die erfolgreicheren Regionen geschleppt wird. Im Prinzip entspricht dies der sogen. No-Covid-Strategie (nicht zu verwechseln mit der völlig anderen Zero-Covid-Idee), die auf Länder wie Taiwan, Australien und Neuseeland als erfolgreiche Beispiele verweist.
Beschränkungen der Mobilität
Der Einwand, so etwas lasse sich in einem freien Land schon aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht verwirklichen, kann kaum überzeugen. Wenn nächtliche Ausgangssperren und eine Begrenzung der Zahl von Besuchern in privaten Haushalten rechtlich möglich sind, dann gilt dies auch für die zeitweise Beschränkung der Mobilität innerhalb einer Region. Allerdings sollte diese nicht zu klein gewählt sein, auch schon um die Berufspendlerströme nicht zu stark zu beschneiden. Aus diesem Blickwinkel bieten sich dafür die sogen. Arbeitsmarktregionen an, welche auch für die regionale Wirtschaftsförderung genutzt werden. Diese wurden gerade erst von ifo-Institut Dresden im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums neu berechnet und beruhen gerade auf den Berufspendlerströmen. Sie haben zudem den Vorteil, überwiegend Bundeländer- und Kreisscharf angegrenzt zu sein, so dass sich eine dezentrale Corona-Politik auch administrativ auf dieser Basis gut durchführen lassen würde.
Insgesamt gibt es 223 Arbeitsmarktregionen, die somit im Durchschnitt jeweils knapp zwei der insgesamt 411 Kreise und kreisfreien Städte umfassen. Die kleinste Arbeitsmarktregion ist der Kreis Sonneberg in Thüringen mit nur gut 56.000 Einwohnern, die größten sind Berlin und München mit 3,5 bzw. 2,7 Mio. Menschen, die dort leben. Es wurde darauf geachtet, dass jeweils mindestens 65% der Pendler innerhalb der jeweiligen Region bleiben, so dass eine Mobilitätseinschränkung das Berufsleben in entsprechend begrenztem Ausmaß beeinträchtigen würde. So umfaßt z.B. die Arbeitsmarktregion Hamburg nicht nur die Stadt selbst, sondern auch die am stärksten mit ihm verflochtenen Umlandkreise, und ebenso wurde es in anderen Zentralstädten wie Bremen, München oder auch Münster gehandhabt.
Tritt nun ein Infektionsherd in einer Arbeitsmarktregion auf, so sollte sofort und automatisch eine Abschottung erfolgen: Weder dürfte jemand noch die Region verlassen noch in sie hineinfahren, weder zu Einkaufs- noch zu Berufszwecken. Nur für besonders wichtige Berufspendler wie z.B. Krankenhauspersonal oder Pflegekräfte könnte und sollte man Ausnahmen für den Weg von und zur Arbeit zulassen. Das gleiche sollte auch für Geimpfte und durch Genesung immun gewordene Personen gelten, was im Zweifel durch ein mitzuführendes Dokument wie Impfpass, ärztliche Bescheinigung etc. nachzuweisen wäre. Auf diese Weise würde die Verbreitung des Virus regional wirksam begrenzt, und andere Regionen müssten nicht unter dem lokalen Infektionsgeschehen anderswo leiden.
Verschärfte Vorsicht
In der betroffenen Arbeitsmarktregion selbst könnten sich die Menschen dagegen weiterhin frei bewegen. Allerdings hätten sie dabei verschärfte Vorsichtsmaßnahmen zu beachten, über die konkret aber dezentral in der Region selbst zu entscheiden wäre. Administrativ könnte dies durch Einigung der betroffenen Stadt- und Landkreise erfolgen, was die Landesregierung dann ggfs. noch formal abzusegnen hätte, um den Vorschriften den nötigen rechtlichen Nachdruck zu verleihen. Der Bundes- oder Landesgesetzgeber sollte aber kein inhaltliches Mitspracherecht über die ohnehin geltenden allgemeinen Vorschriften hinaus haben. Nur so können die Vorteile regionaler Suchprozesse nach den besten Lösungen genutzt werden. Wichtig ist auch der Anreizeffekt: Die betroffene Region hat ja selbst das größte Interesse daran, ihren Bürgern und Unternehmen möglichst bald wieder Bewegungsfreiheit zu geben. Sie wird also schon aus politischen Gründen tunlichst auf wenig wirksame Schaufenstermaßnahmen verzichten und nur das verfügen, was wirklich hilft und ihre Bürger nicht unverhältnismäßig belastet. Daraus wiederum können andere lernen – es entsteht somit ein positiver Zirkel von Anreizen und Belohnung in Form wiedergewonnener Freiheiten, der in dem derzeit geltenden, zentralistischen System fast vollständig fehlt.
Auch die Kontrolle der Mobilitätsbeschränkungen ist einfacher, als beispielsweise bei der 20km-Grenze, die zeitweise im Gespräch war. Denn schon am Autokennzeichen sieht man ja sofort, aus welchem Kreis der Betreffende kommt, und auch die Kreis- und damit die Arbeitsmarktgrenzen selbst sind klar definiert und vielfach sogar durch entsprechende Beschilderung gekennzeichnet. Da die Arbeitsmarktregionen in aller Regel groß genug zugeschnitten sind, um ihr Verlassen etwa zu Einkaufszwecken unnötig zu machen, sollten sich die Regelverletzungen insoweit ohnehin in Grenzen halten. Falls notwendig, müssten eben entsprechend wirksame Strafzahlungen angedroht werden.
Schön ist das alles aus liberaler Sicht vielleicht nicht, aber auf jeden Fall besser als ein bundesweiter harter Lockdown, der unnötigerweise die gesamte Bevölkerung trifft und auch wirtschaftlich viel gravierendere Folgen hat. Die hier beschriebene Strategie erscheint als ein vernünftiger Weg zwischen diesem Extrem auf der einen Seite und dem anderen Extrem eines vollständigen Laissez Faire, welches angesichts der noch nicht gebannten Gefahr einer dritten Welle derzeit ebenfalls unverantwortlich wäre.
Prof. Dr. Ulrich van Suntum lehrte von 1995 bis zu seiner Emeritierung 2019 Volkswirtschafts-lehre an der Universität Münster.