Gedanken zu Christ sein und Politik
Wir leben in einem Zeitalter multipler Krisen: Kriege aller Orten. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine seit über 70 Jahren auch wieder in Europa.
Die Endlichkeit des Lebens wurde uns durch Corona vor Au- gen geführt. „Autoritäre Systeme“ (vulgo „Diktaturen“) sind auf dem Vormarsch, während die Anzahl der Demokratien in der Folge abnimmt, wie der Human Freedom Index des Cato-Instituts ausweist. Verteilungskämpfe brechen auf und erreichen die Banlieues. Und mitten in diese Zeit – wie zu allen Zeiten – ruft Gott (Jesaja 6,8): „Wen soll ich senden?“
Immer wieder, wenn wir im Gottesdienst für die Politikerinnen und Politiker unseres Landes beten, frage ich mich: Ja, wen soll Gott senden? Und: Wer antwortet wie Jesaja „Hier bin ich, sende mich!“ Schauen wir als Christen nicht viel zu gesellschaftsvergessen auf unsere Gaben und wo wir diese im Kinder-Gottes- dienst, bei der Predigt, in der Jugendarbeit, im Küchendienst, … einsetzen können, ohne uns zu fragen: Wer geht denn in diese Welt? Wie werden wir „Salz und Licht“ in einer Gesellschaft, die längst schon „vergessen hat, dass sie Gott vergessen hat“?
Die Grundlagen unserer Freiheit, unseres Individualismus und in der Konsequenz unseres Wohlstands sind ohne das Christentum und die Bibel nicht denkbar, woran uns ausgerechnet der indische Philosoph Vishal Mangalwadi („Das Buch der Mitte“) erinnert. Beten ist das eine, „Gehen“ bzw. „Senden“ das andere. Beides ist wichtig. Beides ist Arbeit im Feld des Herrn, nur eben auf anderen Parzellen.
Und Arbeit im Auftrag des Herrn wird es genug geben in einer Welt, die von „4 Ds“ der Disruption – Digitalisierung, Deglobalisierung, Demographie und Dekarbonisierung – disruptiert wird. In einer Welt, in der die Verteilungskämpfe (Demographie) weiter zu nehmen, die Datenflut (Digitalisierung) Fakenews und Echokammern verstärkt, die geopolitischen Plattenverschiebungen (Deglobalisierung) zu Beben führen und der Klimawandel (Dekarbonisierung) unser Wirtschafts- und Wohlstandssystem in Frage stellt. Die größte Gefahr ist, dass das 5. D, das Diabolische, die Menschlichkeit disruptiert.
Also: Wer gibt Orientierung in der Orientierungslosigkeit der Datenflut? Wer streitet für Werte und Wahrheit in einer Welt des Relativismus? Wer tritt für Freiheit ein, während rings um uns die autoritären Regime auf dem Vormarsch sind, ja selbst in unserem Land Anhänger finden? Wer streitet für Demokratie, während die Verteilungskonflikte zunehmen, die Anmaßung von Herrschaftswissen zur politischen Haltung zu mutieren droht? Wer schützt die Würde menschlichen Lebens in einer Welt des Hedonismus, der Selbstvergöttlichung und des aufkeimenden Transhumanismus?
Das für mich immer wieder bewegendste Zeugnis, wie Christen in einer Welt wirken, die erschreckender kaum sein konnte, ist die Entstehung der „Freiburger Denkschrift“. Sie wurde von christlichen Volkswirten auf Anregung Dietrich Bonhoeffers verfasst. 1943 (!) fertiggestellt, gingen die Gedanken ihrer Anlage 4 zur Wirtschafts- und Sozialordnung in die Soziale Marktwirtschaft ein. Das ist die Folge von „Hier bin ich, sende mich!“
Als Christen sollten wir genau hinhören, ob wir nicht in die Politik gerufen werden, und wir sollten verhindern, dass unsere Mitchristen den Ruf überhören, vor lauter Gemeindearbeit. Mehr noch: Wie sollen senden. Politische Arbeit als Arbeit im Feld des Herrn sollte die Regel nicht die Ausnahme sein. Gemeinden haben immer die Aufgabe des Sendens, nicht des „Zusammen-Gluckens“. Sie haben die Aufgabe des politischen Gestaltens, nicht indem sie parteipolitisch werden, sondern indem sie befähigen „Salz und Licht“ in einer gottvergessenden Welt zu sein. Sie haben die Aufgabe des Stärkens, Befähigens, des Zurüstens, des Begleitens durch Gebet und Seelsorge.
Was ich mir für unsere Gemeinden wünsche, ist dass
1. wir nicht aufhören, für Politiker in unserem Land zu beten. Besonders auch für Politiker, deren Politik wir nicht mögen. Es aber nicht beim Gebet bleibt. Wer betet, muss sich auch der Konsequenzen bewusst sein.
2. wir Inseln für Begegnung, Kommunikation und Verständigung werden. Ja, wir brauchen Stätten, wo Menschen wertgeschätzt werden, einfach weil sie Gottes geliebte Kinder – unsere Geschwister – sind. Mir bereitet es große Sorge, dass die „Lagerfeuer“ in unserer Gesellschaft immer weniger und die Echokammern immer mehr und parzellierter werden.
3. wir Menschen geistlich zurüsten, damit sie in der Welt wirken können, nicht nur im Sonntags-Gottesdienst, in der Kleingruppe, der Kinderarbeit, …
4. wir Gaben nicht nur für die Gemeinde einsetzen. Wenn wir „den Herrn der Ernte (bitten), dass er Arbeiter in seine Ernte sende“ (Matthäus 9,38) sollten wir das gesamte Feld mit allen seinen unterschiedlichen Früchten und Anforderungen an die Bewirtschaftung sehen, nicht nur das Feld der Gemeinde.
5. wir als „Salz und Licht“ die Gesellschaft durchdringen. Nicht mit dem Anspruch, dass wir die Welt retten, sondern in dem Vertrauen darauf, dass sie bereits gerettet ist.
6. wir von der sammelnden zur sendenden Gemeinde werden. Und „Senden“ gilt sichern nicht nur für die Politik, sondern für alle Lebensbereiche.
Dr. Hans-Jörg Naumer: Lebt und arbeitet als Volkswirt in Frankfurt. Neben zahlreichen Veröffentlichungen ist er auch (Mit-) Herausgeber zweier Bücher zur Mitarbeiterkapitalbeteiligung und zur Vermögensbildungspolitik, sowie Autor des Essentials „Grünes Wachstum“.