Gesellschaft für Wirtschaft und Ethik

Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland: Stabiler als wahrgenommen

Wenn Menschen in Deutschland befragt werden, wie sich die hiesige Ungleichheit nach ihrer Einschätzung entwickelt habe, ergeben sich regelmäßig eindeutige Ergebnisse. In einer Umfrage im Auftrag des SPIEGEL im März 2020 stimmten beispielsweise knapp drei Viertel der rund 5.000 Befragten zu, dass die Ungleichheit der Einkommen in Deutschland in den letzten fünf Jahren „eher“ oder „eindeutig“ zugenommen habe (Diekmann, 2020).

Ein Blick auf die statistischen Kennziffern zur Einkommensverteilung offenbart demgegenüber ein differenziertes Bild. Während die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen zwischen dem Ende der 1990er Jahre bis etwa 2005 erkennbar zugenommen hat, zeigte sich in der Folgezeit bis 2019 eine weitestgehend stabile Entwicklung der Ungleichheitsindikatoren. Für den anschließenden Zeitraum der Coronapandemie herrschte wiederum die weitverbreitete Vermutung vor, dass sich gerade in dieser Zeit die Ungleichheit deutlich erhöht habe. Wenngleich die damit einhergehenden Lockdowns bereits einige Jahre zurückliegen, lässt sich die Entwicklung der Einkommensverteilung durch und während der Pandemie bisher kaum empirisch belastbar nachzeichnen.

Unabhängig von der Pandemie wurden zwischen 2019 und 2020 die Erhebung des Mikrozensus sowie ebenso der deutsche Teil der europaweiten Statistik über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) neu aufgestellt. Beim für die Einordnung der Ungleichheitsentwicklung besonders relevanten Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) erschweren neben coronabedingten Befragungseinschränkungen insbesondere der Wechsel des Befragungsinstituts – und ein damit verbundener starker Stichprobenrückgang – die Interpretation der Veränderungen zwischen den Einkommensjahren 2019 und 2020. Da somit alle für die Ungleichheitsmessung typischerweise herangezogenen Erhebungen von Stichprobenveränderungen betroffen sind, lässt sich der Einfluss der Coronapandemie auf die Einkommensverteilung nicht ohne Weiteres aus einem bloßen Blick auf die jeweiligen Ungleichheitskennziffern ablesen. Die aktuell verfügbaren Ungleichheitsdaten deuten jedoch darauf hin, dass sich das Ungleichheitsgefüge auch während der Coronapandemie nicht fundamental verschoben hat.

Der Abgleich der statistischen Kennziffern mit den subjektiven Wahrnehmungen legt nahe, dass der lange Zeitraum einer weitestgehend stabilen Entwicklung der Einkommensverteilung in der Bevölkerung mehrheitlich nicht wahrgenommen wurde. Da Umfragen zur Ungleichheitswahrnehmung immer wieder nahelegen, dass sich bei Einschätzungen zur Einkommens- und Vermögensverteilung kaum Unterschiede zeigen, stellt sich die Frage, ob der kritische Blick auf die Ungleichheit möglicherweise durch die Entwicklung der Vermögensverteilung geprägt ist.

Bezüglich der Statistiken zur Vermögensungleichheit gilt es zunächst anzumerken, dass deren Messung auf Basis von Befragungsdaten mit großen Unsicherheiten einhergeht. Zudem stehen Vermögensdaten je nach Erhebung nur im drei- oder fünfjährigen Turnus zur Verfügung, während Daten zur Einkommensverteilung jährlich erhoben werden. Einzig die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) erlaubt einen Blick auf die längerfristige Entwicklung der Vermögensungleichheit und markiert einen merklichen Ungleichheitsanstieg zwischen den Erhebungszeitpunkten 1998 und 2008. Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise weisen die Verteilungsmaße auf Basis der drei verfügbaren Vermögensbefragungsdaten hingegen auf eine Seitwärtsbewegung oder sogar leicht sinkende Ungleichheit der privaten Nettovermögen hin (Stockhausen und Niehues, 2019).

Neben der Entwicklung der Ungleichheit wird regelmäßig auch die Höhe der Ungleichheit mehrheitlich kritisch eingeschätzt. Während Deutschland in puncto Einkommensungleichheit bei internationalen Vergleichen zumeist unauffällig im (guten) Mittelfeld abschneidet, sticht das hiesige Niveau der Vermögensungleichheit als vergleichsweise hoch hervor. Gerade bei Einordnungen der Vermögensungleichheit gilt es jedoch länderspezifische Faktoren zu beachten. So zeichnet sich Deutschland durch eine umfangreiche sozialstaatliche Absicherung aus, wodurch die Anreize und Möglichkeiten für den privaten Vermögensaufbau geringer ausfallen. Diesem Muster ähneln beispielsweise auch die skandinavischen Staaten Norwegen und Schweden, die sich auf der einen Seite durch einen generös ausgebauten Wohlfahrtsstaat und einer gegenüber Deutschland etwas gleicheren Einkommensverteilung kennzeichnen – auf der anderen Seite aber auch durch eine höhere Ungleichheit bei privaten Nettovermögen.

Der stetig kritische Blick auf die Ungleichheit geht mit einer mehrheitlichen und tendenziell steigenden Verantwortungszuweisung an den Staat einher, dass dieser die Unterschiede zwischen Arm und Reich reduzieren solle (Niehues, 2024). Gleichzeitig offenbaren Einschätzungen zu konkreten Politiken jedoch, dass zielgerichtete sozialpolitische Maßnahmen auf eher geringe Zustimmung in der Bevölkerung stoßen, während vor allem Maßnahmen mehrheitlich bevorzugt werden, von denen auch die (obere) Mitte der Gesellschaft profitiert. Zudem herrscht in der Bevölkerung nur eine sehr begrenzte und vor allem selektive Bereitschaft, zur Finanzierung möglicher zusätzlicher Sozialausgaben beizutragen. Insbesondere vor dem Hintergrund der gleichzeitig zunehmend begrenzten finanziellen Haushaltsspielräume, bergen die Verantwortungszuweisungen und Erwartungshaltungen an den Sozialstaat somit Enttäuschungspotenziale in der Bevölkerung. Hinzukommt, dass gerade Bürgerinnen und Bürger mit sehr pessimistisch verzerrten Einschätzungen der Gesellschafts- und Verteilungssituation häufiger politischen Institutionen misstrauen sowie populistisch oder gar nicht wählen (Niehues et al., 2021).

Gerade in dieser Gemengelage wäre es wünschenswert, wenn durchaus positive Befunde wie eine weitestgehend stabile Ungleichheitssituation – auch in Zeiten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels – entsprechend rezipiert würden, damit sie von den Bürgerinnen und Bürgern auch wahrgenommen werden können (Diermeier/Niehues, 2024).

REFERENZEN

  • Diekmann, F. (2020), Bürger empfinden Deutschland als extrem ungerecht, SPIEGEL, 5. März, https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/buerger-empfinden-deutschland-als-extrem-ungerecht-a-bed86bc6-aecc-4b00-b0a5-a1519ebfc111 (1. Juli 2024).
  • Diermeier, M. und Niehues, J. (2024), Ökonomische Ungleichheit und das Erstarken des rechten Randes – die empirische Suche nach einem Zusammenhang, Wirtschaftsdienst, 104 (7), S. 448-452.
  • Niehues, J. (2024), Verteilungs- und Sozialpolitik: Ist mehr besser? Sinkendes Gerechtigkeitsempfinden in Zeiten wachsender Sozialausgaben, in: Bergmann, K. und M. Diermeier (Hg.), Transformationspolitik. Anspruch und Wirklichkeit der Ampel-Koalition, transcript Verlag, Bielefeld, S. 289-298.
  • Niehues, J., R. Schüler und J. Tissen (2021), Ein Katalysator für Unzufriedenheit? Selektiver Medienkonsum und sozioökonomisches Unwissen, IW-Trends, 48 (2), S. 23-44.
  • Stockhausen, M. und J. Niehues (2019), Vermögensverteilung: Bemerkenswerte Stabilität, IW-Kurzbericht, 81.

Dr. rer. pol. Judith Niehues

Geboren 1982 in Münster, studierte sie von 2002 bis 2007 Volkswirtschaftslehre an der Universität zu Köln und der San Diego State University, USA. Im Anschluss absolvierte sie ein Promotionsstudium im interdisziplinären Graduiertenkolleg SOCLIFE an der Universität zu Köln und war Research Affiliate am Institut zur Zukunft der Arbeit, Bonn (IZA).

Seit 2011 arbeitet sie am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln, wo sie das Cluster Mikrodaten und Verteilung leitet. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Einkommens- und Vermögensverteilung, subjektiven Gerechtigkeitswahrnehmungen sowie Mikrosimulationsrechnungen.

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