Gesellschaft für Wirtschaft und Ethik

Inflationund Geldwertvertrauen in der “Zeitenwende”

von Dirk Wentzel
und Katarina Marošević

Die Rückkehr der Inflation: Zeitenwende auch in der Geldpolitik?

Zu Beginn der Pandemie 2020 befand sich die Europäische Zentralbank (EZB) unter großem Druck. Die Gefahr der Deflation stand im europäischen Raum und die realisierte Teuerungsrate hatte bereits mehrfach den negativen Bereich erreicht. Von sog. „japanischen Verhältnissen“, also einer chronischen Deflation mit gleichzeitiger Wachstumsschwäche, war die Rede. Die Kritik aus der Öffentlichkeit und der Politik, aber auch aus der wissenschaftlichen Fachwelt war groß und die EZB wurde zu einer expansiven Geldpolitik aufgefordert, die sie mit vielfältigen Programmen – etwa den Pandemic Emergency Purchase Programs (PEPP) oder den Asset Purchase Programs (APP), auch durchführte.

Im Frühherbst 2021 drehte sich jedoch die Entwicklung selbst für die Analysten der EZB und für die akademische Fachwelt überraschend schnell. Weltweit unterbrochene Lieferketten im Anschluss an die Corona-Pandemie, die Abschottung des chinesischen Marktes und ein scharfer Anstieg der Energiepreise führten zu einer überraschend hohen Inflation, die im Oktober 2021 in Deutschland bereits über vier Prozent lag und damit ei- nen Rekordwert nach fast 28 Jahren erreicht hatte. Der für viele überraschende Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 zündete dann jedoch die nächste Stufe der Preissteigerungen – und zwar nicht nur in Deutschland und Europa, sondern weltweit.

Die deutschen zweistelligen Rekordwerte führten zu der höchsten Inflation seit 1951 – und nährten damit Urängste, die in den beiden deutschen Hyperinflationen zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts historisch und nachvollziehbar begründet liegen. Aber auch in den USA und in Großbritannien wurden zweistellige Inflationsraten erreicht und Länder wie etwa Argentinien mit einer Inflation größer als 100 Prozent oder auch die Türkei drohten im geldpolitischen Chaos zu versinken. Es ist überraschend, aber nicht zu leugnen oder zu bezweifeln: Das Gespenst der Inflation ist zurück mit allen negativen Konsequenzen, wie sie aus der Wirtschaftsgeschichte bekannt sind – vor allem für Menschen mit einem sehr geringen Einkommen und wenig Ausweichmöglichkeiten in alternative Anlageformen oder Zahlungsmittel.

Aus der Perspektive der Währungspolitik, aber auch der Wirtschaftsethik ist zu fragen, inwieweit die Inflation von der (welt- weiten) Geldpolitik unbewusst oder gar bewusst verschuldet wurde, oder ob es nur eine (Überschuss-) Reaktion der weltweiten Güter- und Finanzmärkte aufgrund der Pandemie und des russischen Krieges ist und damit eher temporärer Natur. Ist die lange Phase der weltweit moderaten Inflationsraten vorbei und kommt eine neue Phase der Geldwertverschlechterung? Oder können die Menschen – zumindest in Deutschland und Europa – auf eine baldige Wiederkehr der Stabilitätspolitik hoffen?

Geldpolitische Entwicklung im Zeitalter geopolitischer Krisen

Am 27. Juli 2022 trat die EZB entschieden und glaubwürdig auf die geldpolitische Bremse und beendete die historisch lange Phase der sog. Nullzinspolitik, die selbst für private Anleger mit Strafzinsen und sog. „Verwahrentgelten“ verbunden war. Dem ersten Zinsschritt auf 0,5% folgten acht weitere Schritte auf 4% (Juni 2023), was eine deutliche Abschwächung der gesamteuropäischen Inflationsrate zur Folge hatte. Auch die „ältere Schwester“ der EZB, die amerikanische FED, ist auf einen deutlichen Kurs der Inflationsbekämpfung eingeschwenkt – trotz der zwischenzeitlich aufflackernden Bankenkrise in den USA und in der Schweiz. Am 31. März 2023 titelte die Börsenzeitung, dass die „Inflation in Deutschland stark zurückgeht, die Arbeit der EZB aber noch nicht erledigt sei“. Für die breite Öffentlichkeit ist die Inflation zunächst einmal nur eine Zahl, die aber politisch hoch sensibel ist und sofort zu Reaktionen führt – etwa der Finanzmärkte oder aber der Gewerkschaften, die bei hohen Inflationsraten durchaus nachvollziehbar eine Kompensation fordern. Dies birgt natürlich die Ge- fahr einer Lohn-Preis-Spirale, wie sie zwangsläufig auf Phasen ansteigender Inflation folgt. Inflation verschwindet also nicht unmittelbar, sondern ebbt in Zweit- und Drittrundeneffekten

langsam ab. Wichtig ist, dass die EZB dabei klar und eindeutig das Ziel vorgibt, nämlich die Rückkehr zu 2% pro Jahr (vgl. die Rede von Bundesbankpräsident Nagel am 22. Juni 2023 in der Bundesbank).

Die Komplexität der Inflationsberechnung ist vielschichtig und wird von zahlreichen Faktoren auf Geld- und Gütermärkten beeinflusst. Es gibt viele Möglichkeiten, Inflation zu messen – etwa die statistischen Indizes von Laspeyres oder Paasche. Je nach Definition des relevanten Warenkorbes und nach der wirtschaftlichen Struktur eines Landes können höchst unterschiedliche Inflationsraten ausgewiesen werden. Dies erklärt beispielsweise, warum derzeit bei den Ländern der Eurozone – die ja alle Teil der einheitlichen Geld- und Währungspolitik der EZB sind – so unterschiedliche Inflationsraten vorliegen können. Während die Inflation in Lettland etwa bei 20 Prozent liegt, kommen Luxemburg und Spanien mit Werten um die sechs Prozent vergleichsweise moderat davon. Und auch in den 50 Staaten der USA werden  unterschiedliche  Inflationsraten  ausgewiesen  –  trotz einheitlicher Geldpolitik der FED.

Inflation kann verschiedene Erscheinungsformen annehmen – etwa die offene oder die verdeckte Inflation. In diesem Zusammenhang ist auch wichtig zu wissen, dass Inflation eine höchst individuelle Dimension hat: Die statistisch gemessene und ausgewiesene Inflation kann sich von der individuell gefühlten Inflation unterscheiden. Aus diesem Grund bietet beispielsweise das statistische Bundesamt auf seiner Website die Berechnung einer persönlichen Inflationsrate an, persönlich zugeschnitten auf die individuellen Konsum- und Verhaltensmuster.

Inflation kann als offene Preisinflation auftreten, was dann häufig bei autoritären Regierungen zu Preisfixierungen führt. Deren Folge ist dann die sog. Kassenhaltungsinflation: Die Bargeld- bestände der Bevölkerung wachsen an, aber de facto kann die Bevölkerung auf den leergefegten Märkten nichts kaufen. Die Wirtschaftspolitik in der ehemaligen DDR arbeitete mit solchen Preisobergrenzen. Ein Auto der Marke Trabant kostete zwar „nur“ 5000 Mark der DDR, war aber mit einer durchschnittlichen Wartezeit von ca. 14 Jahren verbunden.

Inflation kann hausgemacht, also von einer fehlerhaften Geldpolitik der heimischen Notenbank verursacht worden sein. In offenen Volkswirtschaften kann Inflation allerdings auch importiert werden – etwa über Vorprodukte oder Rohstoffe. Gegen diese Art von importierter Weltinflation ist eine Zentralbank weitestgehend machtlos – vor allem in kleinen Ländern. Dieses Argument ist der Hauptgrund, warum viele kleine Länder in Osteuropa zunehmend der Eurozone beitreten wollen oder sogar schon einseitig und freiwillig beigetreten sind.

Das Tempo der Inflation ist ebenfalls ein zentrales Unterscheidungskriterium und ein entscheidender Ansatzpunkt für Maßnahmen der Inflationsbekämpfung. Zumeist beginnt Inflation in schleichender Form mit geringen Raten, die sich aber verfestigen können. Dem gilt es in der Geldpolitik frühzeitig entgegenzuwirken (vgl. Nagel 2023). Auch moderate Inflationsraten können innerhalb eines Jahrzehnts die Kaufkraft einer Währung gravierend beeinflussen und zu dauerhaften Lohn-Preis-Spiralen führen. Wenn die Inflation erst einmal Fahrt aufnimmt und zur galoppierenden Inflation wird, sind die Kosten der Inflationsbekämpfung bereits exorbitant hoch. Bei Hyperinflation gehen die Inflationserwartungen der Individuen ins Unendliche und es kommt zum Zusammenbruch der Währung. Wenn es zu diesem Szenario kommt, hilft nur noch eine Währungsreform mit einer neuen Währung – und wenn möglich einer neuen institutionellen Zentralbankstruktur mit unabhängiger Zentralbank.

Erklärungen für Inflation und Stabilitätsoptionen

Die sog. Quantitätstheorie stellt der monetären Seite eine real- wirtschaftliche Seite gegenüber. Eine Erhöhung der Geldmenge führt im Normalfall (ceteris paribus) zu einer Erhöhung der Preise und im extremen Fall zu Inflation. Die Quantitätstheorie kann Inflation und Deflation für geschlossene Volkswirtschaften relativ gut erklären und ist auch methodisch für Studierende wertvoll. In offenen Volkswirtschaften reduziert sich der Erklärungsgehalt jedoch stark. Für die Weltwährungen Euro und Dollar geht der Erklärungsgehalt sogar gegen Null, weil es zu zahlreichen Geldabflüssen und -zuflüssen kommt, die die Zentralbank kaum beeinflussen kann. So ist der Euro wie der US- Dollar eine weltweite Reservewährung. Zudem wird der Euro in vielen Ländern als sog. Parallelwährung verwendet – auch in der EU. In Polen, Ungarn oder der tschechischen Republik ist der Euro stark verbreitet – vor allem in touristischen Zentren wie Budapest oder Prag. Auch die Kleinstaaten Andorra, Monaco, San Marino und der Vatikan verwenden den Euro ebenso wie die Europäischen Drittstaaten Montenegro und der Kosovo. Der Euro wird auch in der Schattenwirtschaft in Osteuropa (Russland) als Bargeld verwendet, was die geldpolitische Planung der EZB zusätzlich erschwert.

Der Kern einer stabilen Währung liegt in der Notenbankautonomie, also der personellen, institutionellen, finanziellen und instrumentellen Unabhängigkeit der EZB (vgl. Wentzel 1995). Was für Volkswirte eigentlich selbstverständlich ist, findet in der Politik aber keinesfalls überall Unterstützung, wie ein Blick etwa nach Latein-Amerika oder in die Türkei eindeutig zeigt.

Und auch im EU-Mitgliedsland Polen, das sich bisher ja trotz unterschriebenem EU-Vertrag gegen die Einführung des Euro sträubt, gibt es in der Regierungspartei sehr kritische Stimmen gegen die Europäische Währung. Wichtig ist zudem zu wissen, dass Notenbankautonomie nur funktionieren kann, wenn die Zentralbank nur ein einziges Ziel verfolgt, nämlich die Geldwertstabilität: Nur eine „single issue Central Bank“ kann eine erfolgreiche Zentralbank sein. Werden Ziele, für die eigentlich die Fiskal- und/oder Ordnungspolitik Sorge tragen müssten, zusätzlich aufgeladen (hohe Beschäftigung, Wachstum, Klimaschutz, Verteilungsziele), so gerät eine Zentralbank unverzüglich in den Strudel der Tagespolitik – zum Nachteil der Geldwertstabilität.

Kritiker und Euro-Skeptiker werfen der EZB vor, sie habe die Kontrolle über die Geldmenge verloren und die Über-Liquidi- tät müsse sich zwangsläufig in Inflation äußern. Dieser Vorwurf ist nicht gerechtfertigt, denn die EZB kann die Geldmenge je- derzeit über die Veränderung der Laufzeiten und Rückkaufpro- gramme wieder „geräuschlos“ reduzieren. Die in der Corona- Krise aufgelegen Programme APP und PEPP laufen aus (Rede von Bundesbankpräsiden Nagel am 22.06.2023) und Liquidität kann wieder zurückgeführt werden. Die EZB verfügt nicht nur über Instrumente mit hoher Signalfunktion (Leitzins), sondern zugleich über zahlreiche Feinsteuerungs-Instrumente, die sich in den vergangenen Herausforderungen bewährt haben.

Die hohen Inflationsraten in Deutschland sind durch zahlreich nicht-monetäre Sonderfaktoren im Zusammenhang mit den beiden großen geopolitischen Krisen (Corona-Pandemie und Russland-Krieg) beeinflusst worden. Die Rohölpreise lagen im Januar 2020 bei 20 Dollar pro Barrel, im Dezember 2020 schon bei 100 Dollar p/B, eine drastische Verteuerung also, die auch jeder einzelne Verbraucher leidvoll an der Tankstelle erfahren konnte.  Auch  die  Gaspreise  sind  regelrecht  explodiert:  Am 31.12.2020 lag der Gaspreis bei 18 Euro pro MWh, nur neun Monate später am 21.09.2021 schon bei 78 Euro pro MWh. Die- se Preiserhöhungen gingen einerseits direkt in die Inflationsrate ein, anderseits aber auch indirekt, weil vor allem energieintensive Güter die höheren Energiepreise an den Endverbraucher weitergaben. Zu den preistreibenden Faktoren trug zudem die Störung der Lieferketten (Chips) bei, weil viele Engpassgüter betroffen waren – etwa in der Automobilindustrie. Zusammenfassend lässt sich festhalten, was auch die IWF-Chefökonomin Gita Gopinath auf der virtuellen Konferenz der EZB am 28.09.2021 feststellte: Die Sondereffekte der geopolitischen Krisen wirkten auf die Inflationsrate: Eine dauerhafte strukturelle Fehlentwicklung liegt jedoch nicht vor.

Währungsvertrauen Vertrauenswährung Euro?

Währungsvertrauen ist ein Begriff, der auch aus wirtschaftsethischer Perspektive interessant ist, wenn es um Geldwertstabilität in der sog. „Zeitenwende“ geht. Der Begriff ist keineswegs neu: Er geht auf die sog. „Psychologie des Geldes“ zurück, die der Kölner Ökonom Günter Schmölders 1966 publizierte. In seiner Untersuchung über das Vertrauen, das die Menschen ihrem Geld entgegenbringen, machte er in einer empirischen Befragung eine sehr ungewöhnliche Beobachtung. Auf die Frage, ob die Preise in Deutschland steigen werden, antwortete die Mehrheit der Probanden mit Ja: „Selbstverständlich wird alles teurer“. Auf eine zweite Frage, ob die Menschen die Deutsche Mark (DM) als stabile Währung ansehen würden, kam ebenfalls die Anwort: Ja: „Die Deutsche Mark ist eine sehr starke und stabile Währung“. Die Probanden erkannten offensichtlich nicht, dass die Stabilität einer Währung letztlich in der Preisniveaustabilität gemessen wird. Die beiden Antworten stellten also quasi einen

Widerspruch in sich dar. Schmölders erklärte dieses Ergebnis mit der Unterscheidung von Geldwertvertrauen (Stabilität oder Instabilität der Preise) und Währungsvertrauen – also einem generellen Vertrauen in die Institution der Zentralbank und die Dauerhaftigkeit der Währung.

Die Erkenntnisse von Schmölders könnten nicht aktueller sein als in einer Phase der Geld- und Währungspolitik, in der erstmals seit 1951 wieder Inflationsraten in eine Höhe schießen, die noch ein Jahr zuvor vor völlig unvorstellbar waren. Eine sehr spannende europäische Perspektive eröffnet sich vor dem Hintergrund, dass das neueste EU-Mitgliedsland Kroatien just auf dem Höhepunkt der europäischen und weltweiten Inflation am

1. Januar 2023 den Beitritt zur Eurozone vollzogen hat. Haben die Menschen in Kroatien wirklich Vertrauen in die neue Währung? Und lässt sich die Schmöldersche Unterscheidung von Geldwertvertrauen und Währungsvertrauen auch im neuesten Euroland feststellen?

Zur Klärung dieser Frage wurden an vier kroatischen Universitäten (Osijek, Zagreb, Split und Rieka) ca. 600 Studierende befragt. Es zeigte sich das  gleiche  Ergebnis  wie  bei Schmölders  (1966):  Auch  die Mehrheit der Kroatinnen und Kroaten   erwartet   steigende Preise, sieht den Euro aber als eine starke und stabile Währung. Überraschend war, dass eine große Mehrheit der Befragten eine positive Wirkung des  Euro  auf  die  wichtigste kroatische Industrie erwarten – den Tourismus (ausführlich Marosevic und Wentzel 2023). Es ist festzuhalten, dass Deutschland und Kroatien sehr unterschiedlich auf die Einführung des Euro reagiert haben. In Deutschland waren die Menschen bei der Euroeinführung als Bargeld 2002 eher skeptisch („Der Euro ist ein Teuro“) und es gab viel „DM-Nostalgie“. In Kroatien hin- gegen sah man die Euroeinführung wesentlich positiver. Dies mag aber daran liegen, dass die alte Währung KUNA ebenfalls häufig mit Inflation zu kämpfen hatte und niemals zuvor ein Stabilitätsanker für ganz Europa war – wie die DM seit den frühen 70er Jahren.

Der Europäische Weg raus aus der Inflation

Der Begriff der Zeitenwende wurde von Kanzler Olaf Scholz nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine geprägt. Er ist ein zutiefst politischer Begriff, der den Sachverhalt beschreibt, dass erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder versucht wird, in aggressiver militärischer Form Grenzverschiebungen in Europa durchzuführen. Dies kann in der Tat als ein fundamentaler Paradigmenwechsel in der europäischen Politik bezeichnet werden.

Auch die Geld- und Währungspolitik ist im direkten Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und dem Angriffskrieg Russlands unmittelbar betroffen. Allerdings kann keineswegs von einem Paradigmenwechsel gesprochen werden: Das Ziel der Geldpolitik, nämlich die Erhaltung der Geldwertstabilität, stand und steht keineswegs zur Disposition (vgl. Nagel 2023). Die gegenwärtige Inflation ist nach Meinung der meisten Experten und auch der Vertreter der EZB, der Deutschen Bundesbank und des IWF nicht allein durch monetäre Faktoren verursacht. Explodierende Rohstoffpreise, gesprengte Lieferketten,

Nahrungsmittelengpässe  aufgrund  des  Ausfalls  ukrainischer Getreidelieferungen, aufgestaute Nachfrage, also eine Kombination aus Angebots- und Nachfrageschocks, haben zu dieser schwierigen Gemengelage mit weltweit hohen Inflationsraten geführt. Diese Entschuldigung entbindet die Währungshüter je- doch nicht von der Verpflichtung, sich möglichst zeitnah wieder an das vorgegebene Inflationsziel heranzuarbeiten.

Die „Eurozone flirtet mit fiskalischer Dominanz“ – so äußerte sich Pierre Wunsch, Mitglied des EZB-Rates. Dies bedeutet, dass die EZB keine vollständig autonome Geldpolitik betreiben kann, weil sie immer die Refinanzierung der Staaten im Hinterkopf hat. Bei der Rückführung der Inflationsrate kann und darf es aber keine Rücksicht auf einzelne Staaten geben: Die Wiedergewinnung des Zinses als Orientierung für Investitionsentscheidungen und Geldeinlagen muss ordnungspolitisch im Vordergrund stehen. Nach wie vor gilt: Die EZB darf keine Staatsanleihen direkt ankaufen – sie kann und darf keine Fiskalpolitik betreiben. Dies ist und bleibt die offene ordnungspolitische Flanke der Europäischen Geldpolitik: Eine gemeinsame Geldpolitik bei unterschiedlicher nationaler Fiskalpolitik.

Die EZB muss mit höchster Priorität an der Bekämpfung der Inflation und der Rückkehr zur Geldwertstabilität arbeiten. Die Glaubwürdigkeit hat natürlich Kratzer erhalten. Wenn es aber gelingt, relativ rasch durch diese Krise zu kommen und die Geldwertstabilität zurück zu gewinnen, könnte sie sogar mittelfristig gestärkt werden. Währungsvertrauen – so zeigt es auch die aktuelle Untersuchung in Kroatien – hängt nicht nur von den kurzfristigen Inflationsraten ab, sondern von der langfristigen Struktur einer Währung und den Institutionen einer Zentralbank. Kurzfristig besteht keine Sorge, dass das Ziel der Geldwertstabilität aus dem Blick geraten könnte. In der langen Frist müssen  die  Fiskalpolitik  und  die  staatliche  Ausgabenpolitik aber wieder ins Gleichgewicht mit der Europäischen Geldpolitik kommen. In den letzten 800 Jahren (vgl. Reinhardt und Rogoff 2009)  sind alle Zusammenbrüche des Geldes durch zerrüttete Staatsfinanzen verursacht worden. Die Begrenzung der Staats- verschuldung ist die wichtigste Voraussetzung für langfristige Geldwertstabilität. Die Rückkehr zur „schwarzen Null“ muss mittelfristig wieder zum Ziel der Politik werden – selbst wenn es derzeit in der deutschen Politik nicht sonderlich populär erscheint. Die Überforderung der EZB durch die Politik, etwa nun für Klimaschutzziele, ist eine große Gefahr. Eine unmittelbare und dauerhafte Inflationsgefahr oder gar eine Gefährdung des Projektes einer europäischen Einheitswährung ist jedoch derzeit (noch) nicht festzustellen!

Literaturhinweise:

Alesina, Alberto und Lawrence H. Summers. 1991. Central Bank Independence and Macroeconomic Performance. Some Comparative Evidence. Harvard University.

Börsenzeitung. 2023. Inflation. Viele Gefahren, Börsenzeitung vom 31.03.23, S. 1.

Beck, Hanno und Dirk Wentzel. 2011. Ordnungspolitische Überlegungen zu Staatsinsolvenzen und einer Insolvenzord- nung für Staaten. ORDO, 62, Stuttgart: S. 71-100.

Beck, Hanno und Dirk Wentzel. 2012. Ist der Euro noch zu retten? in: Deutschland und Europa, hrsg. von der Landeszen- trale für politische Bildung Baden-Württemberg, Sonderheft zur Eurokrise, April 2012: S. 26-35.

Marošević, Katarina und Dirk Wentzel. 2023. Trust in Curren- cy – The Case of the Euro Introduction in Croatia, Vortrag und Artikel präsentiert beim Internationalen Forschungsseminar Radein, Südtirol/Italien, am 9. Februar 2023.

Nagel, Joachim. 2023. Stabiles Geld in den Köpfen verankern. Rede anlässlich des zehnjährigen Jubiläums des „Aktions- kreises stabiles Geld“ am 22. Juni 2023 in den Räumen der Deutschen Bundesbank, Frankfurt.

Reinhart, Carmen M. und Kenneth S. Rogoff. 2009. This Time is Different: Eight Centuries of Financial Folly. Princeton Uni- versity Press.

Wentzel, Dirk. 1995. Geldordnung und Systemtransforma- tion: Ein Beitrag zur ökonomischen Theorie der Geldverfassung. Schriften zum Vergleich von Wirtschaftsordnungen, Bd. 50. Stuttgart, Jena, New York, Gustav Fischer Verlag.

Wentzel, Dirk. 2013. Europa in (Un-) Ordnung: Zur institu- tionellen Evolution einer europäischen Stabilitätsordnung, Beitrag zu den Karlsruher Gesprächen am Karlsruhe Institute of Technology, KIT, Karlsruhe.

Prof. Dr. Katarina Marošević – Chair of the Economic Science at the Faculty of Law Osijek, Croatia

Prof. Dr. Dirk Wentzel – Jean Monnet Chair in European Economic Integration Hochschule Pforzheim

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