Viele Menschen in den östlichen Bundesländern haben möglicherweise keine Angst mehr vor Reputationsschäden. Könnte es sein, dass vielen Menschen im Osten gar nicht egal ist, rechtsextrem zu wählen? Nur haben sie aufgegeben zu versuchen, das westdeutschen Journalisten zu erklären. Sie machten in der Vergangenheit und machen bis heute schlechte Erfahrungen mit ihnen. Wer erinnert sich noch an den journalistischen „Sündenfall“ Sebnitz, wo im Juni 1997 in einem Schwimmbad ein kleiner Junge ums Leben kam und wofür sich die BILD-Zeitung vier (sic) Jahre später ob des rechtsradikalen Framings entschuldigte? Einige Menschen in Sebnitz und Sachsen vermutlich schon.
Laut einer ZEIT-Umfrage1 sagen 82 % der Westdeutschen und 84 % der Ostdeutschen, der Staat solle die Zuwanderung einschränken. Bei der Ausweisung von Straftätern (92/88), speziellen Aufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge mit geringen Bleibeaussichten (80/80), der Einstufung weiterer Länder als sichere Herkunftsstaaten (78/78), einem zeitlich beschränkten Bleiberecht für Flüchtlinge aus Krisengebieten oder schärferen Regeln für Familienzusammenführung (68/68) sind ebenfalls kaum Unterschiede „zu Lasten“ der Ostdeutschen in dieser Studie gemessen worden.
Für die Begrenzung der Zuwanderung ist seit zehn Jahren keine Lösung in Sicht. Das Einzige, was konkret geholfen hatte, war der vielgescholtene EU-Türkei-Deal.
Bei der Frage, welche Aspekte den Deutschen in West und Ost besonders große Sorgen bereiten, wurde der größte Unterschied beim Erstarken des Rechtsradikalismus vermerkt (West 52 %/ Ost 38 %).
Klar ist jedenfalls nicht erst seitdem auch die ZEIT darüber schreibt: Zuwanderung soll begrenzt werden. Und das darf man in einer Demokratie und in Deutschland eben auch wählen.
Ruft man sich dagegen die Medienberichterstattung im Vorfeld der Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg in Erinnerung, erhält man einen anderen Eindruck. Parteien und Wie anders ist der Osten wirklich? Talkshow-Gäste diskutierten, wie gespalten Deutschland sei, die Ostdeutschen würden zu einem Drittel Rechtsextreme oder gar Nazis wählen, die AfD sei eine Gefahr für die Demokratie, für Frieden und Freiheit.
Eine andere und ganz einfache Interpretation der Wahlergebnisse, inklusive des Erfolgs des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), könnte auch lauten: Die Ostdeutschen haben keine Lust darauf, den „Autoritäten“, den Vorsprechern in Medien, etablierten Parteien und Unternehmen zu folgen. Sie wählen, was ihnen passt und auf dem Wahlzettel steht.
Oder man geht sogar so weit wie die ZDF-Chefredakteurin Bettina Schausten im Kommentar zu den Wahlergebnissen. Sie zog am Tag des AfD-Wahlsiegs am 1. September 2024 Parallelen zwischen diesem Ereignis und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, den die deutsche Wehrmacht am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen auslöste.
Vielleicht sind die DDR-Bürger weniger diktaturgeschädigt als immer wieder behauptet wird! Sie haben vielmehr in den langen Jahren der SED-Diktatur eine Allergie entwickelt gegen jede Art von Ideologie. Sie haben vielleicht sogar den Rechtsstaat und die Demokratie besser verstanden als ihre westdeutschen „Brüder und Schwestern“. Anders als in einer Diktatur können sie heute Wahlen im demokratischen Rechtsstaat dafür nutzen, der Regierung mitzuteilen, es reicht. Eine andere Politik muss her und nicht eine andere Kommunikation oder „Haltung“.
Könnte es also sein, viele Ostdeutsche haben sehr rationale Gründe so und nicht anders zu wählen? Einer aus meiner Lausitzer Heimatprovinz, der selbst international tätig war, sagte mir schon vor fünf Jahren: Wenn ich in Köln bei meinem Arbeitgeber bin und gefragt werde, warum bei mir zu Hause so viele AfD wählen, dann antworte ich: Die wollen nicht, dass es so wird wie bei euch in Köln. Sie meinen damit wohl, dass die Kinder allein zur Schule radeln können, die Straßen sauber und sicher sind, nicht so viele Fremde herumsitzen und keine Frau Angst haben muss, allein nachts mit dem Bus zu fahren. Das mag als Gegensatz gar nicht stimmen, wird aber so wahrgenommen.
Wenn Parteien Inhalte vertreten, die ich nicht teile oder sogar verabscheue, und wenn Menschen diese sogar wählen, fallen sie damit noch lange nicht aus dem demokratischen Spektrum. Wer da dazu gehört, entscheidet in Deutschland das Bundesverfassungsgericht.
Wie man Heizen, Autofahren, Essen, Reden und Schreiben soll, will man sich nicht vorschreiben lassen. Auch hat man mit dem „Kapitalismus“ in den letzten 35 Jahren weniger gute Erfahrungen gemacht: Städte sterben, auf dem Land sind medizinische Versorgungseinrichtungen oft unerreichbar, auf Arzt-Termine muss man lange warten, wenn man – wie die meisten Ostdeutschen – nicht privat versichert ist. Schwerer zu erklären ist m. E. die Einstellung vieler Ostdeutscher zur russischen Invasion in der Ukraine. Es hat vermutlich weniger mit Putin-Liebe oder Friedenssehnsucht zu tun als mit der kritikwürdigen und unpolitischen Einstellung, der Krieg in der Ukraine ginge uns nichts an.
Nur wir alle haben zu akzeptieren: Auch einfache Menschen, man könnte sie auch „Normalbürger“ nennen, haben vor dem Gesetz dieselben Rechte und eine Stimme! Das ist so gewollt und auch richtig. Sie nehmen in ihrem Umfeld oft früher und stärker Probleme wahr als Großstadteliten oder Regierungsvertreter.
Am Anfang hatte ich auf die sachlich gar nicht großen Differenzen zwischen West- und Ostdeutschen bei dem wahlentscheidenden Thema Migration verwiesen. Die folgende Graphik zeigt dagegen den großen Unterschied in den Antworten in West- und Ostdeutschland auf die Frage, ob man seine Meinung in den Medien wiederfindet. In den östlichen Bundesländern antworten 51 %, die eigene Sichtweise sei kaum oder gar nicht vertreten. Alles beginnt und endet mit der Verantwortung der Medien.
Ich bin ohnehin weit davon entfernt, das (Wahl-)Verhalten und manchmal auch die bodenlose Dummheit vieler Ostdeutscher zu rechtfertigen. Auch wie fast alle AfD-Politiker agieren und argumentieren finde ich unerträglich. Für mich ist die AfD kein möglicher Koalitionspartner. Aber auch das BSW als nationale, sozialistische Partei braucht eine professionelle, kritische Begleitung in den Medien und keine Dauereinladung der Protagonistin in die Talkshows zur besten Sendezeit.
Partei und Parlamente dürfen sich nicht der Mühe und der harten Arbeit der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner entziehen. Zumindest sollte sich keiner wundern, wenn Ausgrenzung nur bedingt funktioniert, durch Medienpräsenz sich die Wahlchancen der AfD sogar erhöhen und zunehmend Wahlkämpfe geführt werden, wo nur noch einer gegen die AfD übrig bleibt wie zuletzt in Brandenburg. Eine hohe Wahlbeteiligung sollte als Fest der Demokratie gefeiert werden können und weniger durch polarisierende Mobilisierung die Gesellschaft spalten.
1. Die Zeit, Nr. 39, 12.09.2024, S. 5, zeit.de/migrationsumfrage
2. https://www.spiegel.de/panorama/fall-joseph-bild-zeitung-entschuldigt-sich-a-147018.html, abgerufen 29.09.2024
Günter Nooke ist studierter Physiker, postgradual aus gebildeter Arbeitsmediziner und war von 1995 bis 1998 Controller im größten Umweltsanierungsprojekt, der Rekultivierung der DDR-Braunkohlentagebaue und Industrieanlagen. Als ehemaliger DDR-Bürgerrechtler ging er 1990 in die Politik und leitete eine unabhängige Fraktion im Landtag Brandenburg. Er war von 1998–2005 Mitglied im Deutschen
Bundestag, dort u.a. Sprecher der CDU/CSU-Fraktion für Kultur und Medien. Danach war Nooke Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung und 2010 bis 2021 Persönlicher
Afrikabeauftragter von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Im Jahr 2022 und 2023 arbeitete er für eine Global Health Company.
Nooke ist Autor zahlreicher Artikel in Büchern, Zeitschriften und Zeitungen und Herausgeber im Bereich Menschenrechte, Afrika und Entwicklungspolitik. Derzeit ist er als Berater tätig und bringt seine Erfahrungen als Beiratsmitglied der CHB Unternehmensgruppe im Themengebiet Internationale
Beziehungen ein. Er beschäftigt sich auch mit grundsätzlichen Fragen der Wissenschaftstheorie.