Gesellschaft für Wirtschaft und Ethik

Gibt es Alternativen zum Markt?

von Dirk Langemann

Seit einigen Jahren widmen sich Zeitschriftenbeiträge, Bücher auf Bestsellerlisten und Talkshows dem heraufbeschworenen Ende des Kapitalismus. 2022 erschien der gleichnamige Bestseller der taz-Redakteurin Ulrike Herrmann, und die Silvester-Ausgabe des Spiegels 2022/23 ist ein weiteres Beispiel.Schon2010hatderKabarettistVolkerPispersformu-liert: „Auf dem Grabstein des Kapitalismus wird stehen: Zu viel war nicht genug.“

Kaufhäuser voller absurd teurer Marken, nur für Spitzenverdiener bezahlbare Häuser, gigantische Verkehrsprojekte oder die immer teurere Oktoberfest-Maß scheinen zu belegen, dass unsere Wirtschaft jeden vernünftigen Rahmen sprengt. Doch heute bewunderte Landschlösser zeigen, dass es seit langem Auswüchse des Marktes gibt.

Warum taucht der Wunsch, dem Kapitalismus ein Grablied zu singen, gerade jetzt verstärkt auf? Angesichts des Klimawandels und der notwendigen Ressourcenschonung liefert die Postwachstumsökonomie einen Denkrahmen, dem Kapitalismus samt seinem Gewinnstreben und seinen Krisen die Schuld an der Belastung der Umwelt, des Klimas und der Ressourcen zu geben und stattdessen ein nachhaltiges, gemeinschaftliches und nicht gewinnorientiertes Wirtschaften herbeizuwünschen.

Die Argumentation erinnert an Karl Marx‘ Krisentheorie, die in den wiederkehrenden Krisen die grundsätzliche Krise des Kapitalismus sah, an die Warnung, dass der Kapitalist „für 100% Profit über Leichen gehen würde“, und an die Hoffnung auf eine klassenlose Gesellschaft. Wie schon im 19ten Jahrhundert werden aus den Auswüchsen des Kapitalismus Argumente für sein baldiges Ende abgeleitet. Doch was genau müsste die Gesellschaft auf dem Weg in eine nichtkapitalistische Wirtschaftsordnung überwinden?

Homo oeconomicus bezeichnet das Modell eines Menschen, der unter Abwägung aller verfügbaren Informationen rein eigen- nutzenorientiert handelt. Wie kaum etwas anderes steht es für den herzlosen Kapitalismus. Ein Homo oeconomicus würde einen Fluss verseuchen und das Leben fremder Kinder gefährden, sofern dies genügend preisgünstig, nicht verboten und nützlich für seinen Gewinn ist.

Auf der anderen Seite ist der Homo oeconomicus ein erklärungsmächtiges Modell. Hat ein Autofahrer die Auswahl zwischen benachbarten Tankstellen mit unterschiedlichen Preisen, so kann es viele Gründe geben, bei einer teureren Tankstelle zu tanken, z.B. der bessere Kaffee, die nettere Verkäuferin oder die bequemeren Tankrüssel. Trotzdem bleibt der Zwang zu begrün- den, warum man selbst eine kleine Preisdifferenz von einem Cent pro Liter, also ca. 60 Cent pro Tankfüllung, verschenkt. Außer den nichtpekuniären Aspekten gibt es keinen Grund, 60 Cent zu verschenken, ganz egal, wie unbedeutend dieser Betrag erscheint.

Eine Hoffnung der Marktkritik besteht in altruistischem Verhalten, also darin, dass das höherstehende moralischen Handelns Abstriche am finanziellen Gewinn kompensiert. Das Ultimatumspiel ist ein Beispiel: Von zwei Probanden A und B wird A suggeriert, er oder sie hätte 20 Euro gewonnen. Allerdings muss A mit B teilen und ein Angebot machen, wieviel er abgibt. Nimmt B an, so behalten beide das Geld. Lehnt B ab, gehen beide leer aus.

Als Homo oeconomicus müsste B jeden Betrag größer null annehmen, denn B hätte mehr als im Falle der Ablehnung. Jedoch zeigt sich in Experimenten, dass B Beträge ab ca. 40% der Ge- samtsumme akzeptiert und kleinere Beträge ablehnt. B bestraft unmoralisch kleine Angebote. Auf den ersten Blick scheint es, als ob B nicht als Homo oeconomicus handelt, sondern die gerechte Aufteilung der 20 Euro über die Gewinnorientierung stellt.

Das Ultimatumspiel hat jedoch eine erhebliche Schwäche, denn es skaliert nicht, weil die Moral B nur Beträge in der Größenordnung von Trinkgeldern und Almosen kostet. Ist der Gewinn nicht 20 Euro, sondern eine viel größere Summe, sodass selbst ein winziger Anteil für B relevant ist, z.B. für seine Gesundheit oder die Gehälter seiner Angestellten, so bleibt B keine andere Wahl als auch 5% oder selbst 2% anzunehmen. B handelt umso stärker als Homo oeconomicus, je größer die Gewinnsumme ist. Kurz gesagt, ist das Altruismus-Argument unhaltbar, wenn es um genügend bedeutsames Geld geht.

Vergleichbar sind kooperative Spiele, die zur Modellierung der Bemühungen um Umwelt- und Klimaschutz herangezogen werden. Eine Gruppe von Individuen sammelt Geld. Wenn eine bestimmte Summe zusammenkommt, erhält jeder in der Gruppe einen Gewinn. Die kooperativen Mitspieler, die eingezahlt haben, erhalten dieselbe Gewinnsumme wie die nichtkooperativen Spieler. Spieltheoretische Untersuchungen zeigen, dass es bei wiederholten Spielen unterschiedliche Evolutionen des Spielverhaltens geben kann. Trotzdem bleibt am Ende jedes Spiels die Situation, dass die nicht kooperativen Spieler mehr Gewinn machen, weil sie keinen Einsatz gezahlt haben.

Vergleicht man das Zusammenkommen der gesammelten Summe mit dem Erfolg beim Klimaschutz, so werden die Nichtkooperatoren die Rettung der Welt mit mehr Geld erleben, als diejenigen, die in diese gesellschaftliche Aufgabe investiert haben. Im Falle des Weltuntergangs trinken die nichtkooperativen Individuen kurz vorher den besseren Wein.

Dieser Effekt ist mit einem Appell an moralisches Handeln nicht aus der Welt zu schaffen. Vielmehr ist es eine unabwendbare Konsequenz marktwirtschaftlichen Handelns, solange die Rahmenbedingungen die kostenfreie Nichtkooperation attraktiv machen. Geht es um genügend viel Geld, so wird es jemanden geben, der den Gewinn realisiert.

Das ist keine moralische Problematik, sondern eine fast natur- gesetzliche Kraft. Die Hoffnung auf altruistisches oder allgemei- ner auf ein vorrangig moralisches Verhalten ist angesichts dieser Kraft unrealistisch, sobald es um Beträge von Belang geht. Wäre es nicht sinnvoller, im gesellschaftlichen Diskurs Rahmenbedin- gungen zu entwickeln, die die naturgesetzliche Kraft nutzt und unerwünschte Nichtkooperation auch wirtschaftlich unattraktiv macht?

Prof. Dr. rer. nat. habil. Dirk Langemann
hat seit 2009 eine Professur für mathematische Modellierung und Analysis am Institut für Partielle Differentialgleichungen der Technischen Universität Braunschweig.

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