Gesellschaft für Wirtschaft und Ethik

Deutsch- chinesische Beziehungen: Quo Vadis?

China ist derzeit nicht en vogue. Dass das Reich der Mitte vor noch weniger als einem Jahrzehnt ein Land mit einer außergewöhnlichen Anziehungskraft nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für Studenten aus aller Welt war, ist heute mitunter schwer zu glauben. Der Wind bzw. die öffentliche Wahrnehmung in Deutschland drehte sich spätestens im Jahre 2019, als das heute gängige Narrativ, dass China für Europa zugleich ein Kooperations- und Verhandlungspartner, ein wirtschaftlicher Konkurrent und ein systemischer Rivale ist, formuliert wurde.

Die im Westen beliebte Assoziation von China und Rätsel weist letztlich nur daraufhin, dass es uns, dies hat vor mehr als 300 Jahren bereits Gottfried-Wilhelm Leibniz vermerkt, an Verständnis fehlt und man sich nicht hinreichend bemüht, China zu „erforschen“. Dabei sind die Grundlinien des politischen Denkens, die die kommunistische Partei bzw. ihre Führung offen kommuniziert, relativ einfach zu verstehen, wenn man sich die Mühe macht, diese verstehen zu wollen. Real erleben wir im gesamten Westen einen dramatischen Niedergang der China- kompetenz.1 Ende Oktober 2023 verlautbarte die US-Botschaft in Peking, dass weniger als 400 Amerikaner noch in China studierten.2 Offensichtlich schätzen es die meisten jungen Amerikaner derzeit als karriereschädigend ein, mit China auch nur in Verbindung gebracht zu werden. Man weiß im ganzen Westen von diesem großen Land, dessen Sprache die wenigsten von uns verstehen, fast nichts mehr bzw. was dort vor sich geht.

Die Kommunistische Partei China und das Mandat des Himmels

Chinas Gesellschaft und damit auch die Politik ist historisch durch wenige (auf)geschriebene Gesetze charakterisiert gewesen. Das heißt, dass die Mittel, die das Volk zu Wohlstand führen, nachrangig sind, sofern Wohlstand erzeugt und bewahrt wird. Die Konzepte der Ordnungspolitik und Ordnungsethik, auf die in Deutschland häufig abgestellt wird, sind in China kulturell nicht verankert und damit unverständlich.3 Grundsätzlich gilt spätestens seit dem Jahre 136 vor Christus, als der Han-Kaiser Wu Di die konfuzianische Lehre zur „Staatsideologie“ erklärte (bereits 12 Jahre später wurde die erste Reichsakademie zur Ausbildung von höheren Beamten gegründet) für jede Regierung die unverhandelbare Pflicht, gut für das Volk zu sorgen und damit das Mandat des Himmels zu bewahren. Dies ist Herrschaft für das Volk, nicht durch das Volk.

Konfuzius höchstselbst lehrte, dass eine Regierung ein Höchstmaß an Loyalität verdiene, aber eben nur so lange, wie sie ihrem Auftrag, für das Volk gut zu sorgen, in hinreichender Weise nachkommt. Sein „Nachfolger“ Menzius wurde deutlicher: Eine unfähige Regierung gehöre abgesetzt (wobei abgesetzt mit gestürzt und getötet übersetzt werden darf) und durch neue Führer des Landes ersetzt. Die für mich wichtigste Passage in den Analekten des Konfuzius lautet:

„Führe das Volk durch Gesetze, und ordne es durch Strafen, und das Volk wird versuchen, den Strafen zu entgehen, aber es wird keine Scham haben. Führe das Volk durch Tugend und ordne es durch die Rituale des Anstandes, und das Volk wird Scham haben und gut werden.“

So wie China über Jahrtausende Einflüsse von außen aufgenommen und angepasst bzw. „weiterentwickelt“ hat (das bekannteste Beispiel ist der Buddhismus), so wurde der Marxismus sinisiert. Ob und inwieweit es sich dabei noch um „richtigen“ Marxismus handelt, steht auf einem anderen Blatt.4 Wenn man sich vergegenwärtigt, dass die großen chinesischen Dynastien Zhou, Han, Tang, Song, Ming und Qing auf diese Art allesamt länger als 250 Jahre „durchhielten“ (also jeweils länger, als die Vereinigten Staaten von Amerika existieren) bevor sie durch gewaltsamen Umsturz und Tod der alten Eliten, inklusive des Kaisers) abgelöst wurden, und dagegen die Dauer der bisherigen Existenz der seit 1949 herrschenden „Dynastie“, der Kommunistischen Partei Chinas (KPC), stellt, dann erschließt sich rasch, dass die Herrschaft der KPC gerade erst dem Alter eines „Jungerwachsenen“ entspricht. Mit anderen Worten: Die noch junge herrschende Dynastie muss sich in dieser Tradition noch lange (täglich) beweisen.

Die KPC verfügt derzeit über ca. 98 Millionen Mitglieder; dies korrespondiert zu ca. einem Zehntel der Erwachsenen und ist damit relativ weit weniger als beispielsweise in der DDR oder der Sowjetunion. Potenziell neue Mitglieder werden angesprochen und sie sind zumeist die besten Schüler vor dem Abitur oder zu Beginn des Studiums an der Universität. Dies verhindert natürlich keine „Kultur von Ja-Sagern“, sorgt aber insgesamt für eine hohe intellektuelle Qualität der Kader, von denen eine hohe moralische Integrität und die Bereitschaft, dem Volk zu dienen, verlangt wird. Dass in der Realität Klugheit oft moralische Integrität schlägt, steht auf einem anderen Blatt. Die chinesische Regierung weiß sehr wohl, dass sie ein gebildetes Volk braucht, um im „Wettbewerb der Systeme“ konkurrieren zu können. Deshalb verfolgt niemand in China, der noch bei Trost ist, das Ziel, die Menschen ernsthaft „umzuerziehen“,4 wenn hier beispielhaft davon abstrahiert wird, dass der massenhafte Einsatz von Kameras im öffentlichen Raum dazu geführt hat, dass der Verkehr in Chinas Großstädten inzwischen in etwa so geregelt und zivilisiert abläuft wie in der westlichen Welt. Richtig ist, dass „Sozialkontrollen“6 vorwärtsgetrieben werden, wobei die Menschen dem Druck – „wie die Fische im Wasser“ – ausweichen, was sie, sofern sie die direkte Konfrontation mit der Staatsgewalt vermeiden, auch können. Das Lesen von Politliteratur und das Anschauen von „Pflichtvideos“ wird im Universitätssektor, der grundsätzlich der Partei bzw. den Kadern zugerechnet wird, zu- meist als lästige Pflicht empfunden, der man sich so weit wie möglich entzieht. Ob die Mehrheit der Chinesen pauschal mit „freiheitlichen Werten“ – dazu gehört dann in ihrer Wahrnehmung auch die „Freiheit“, öffentlich Bücher zu verbrennen und Drogen zu nehmen – viel anfangen kann, bezweifle ich. Reisefreiheit und die Möglichkeit, sich öffentlich zu äußern, sind positiv konnotiert, das Gesamtkonzept des amerikanischen Westens wird m.E. von der überwältigenden Mehrheit, und dazu gehören auch meine gebildeten Shanghaier Freunde und Kollegen, abgelehnt.

Status quo

Richtig ist, dass sich China in einer Wirtschaftskrise befindet, die in etwa dem Zustand der Bundesrepublik Deutschland Mitte der 1990er Jahre, nach Beendigung des „Einheitsbooms“, entspricht. Nach über 30 Jahren Wachstum bekommen die weniger guten Absolventen der Universitäten nicht die Jobs, die ihnen noch wenige Jahre zuvor vorschwebten und die Eintrittsgehälter sind zumeist auf einem Niveau, das nur ein materiell sehr bescheidenes Leben ermöglicht. Xi Jinping selbst hat dies im Herbst 2023 derart auf den Punkt gebracht, dass die Jugend lernen müsse „Bitterkeit zu essen“. Hier geht es prinzipiell um den mit der inzwischen beendeten Ein-Kind-Politik verbundenen sich anbahnenden Generationenkonflikt und die psychische Belastbarkeit der Wohlstandskinder7, deren massenweise Existenz den wohl höchsten Preis für den wirtschaftlichen Aufschwung der vergangenen drei bis vier Jahrzehnte darstellt. Dabei besteht in China Konsens, dass die Ein-Kind-Politik, ohne die heute fast sicher mehr als zwei Milliarden Chinesen in materiell deutlich bescheideneren Verhältnissen leben würden, notwendig war.

Es war nicht nur die Größe des chinesischen Volkes, sondern die Fähigkeit der Chinesen, zugleich gut organisiert und hart zu arbeiten und der starke Fokus auf kollektive Werte (Stichwort Guanxi) anstelle von individualistischen Lebensentwürfen8 und die hohe Wertschätzung von Bildung in der chinesischen Gesellschaft, die ursächlich dafür sind, dass sich China innerhalb von weniger als zwei Generationen wieder als ökonomische, militärische und politische Weltmacht etabliert hat.

Die chinesische Regierung hat es im vergangenen Jahrzehnt geschafft, das Bild vom freundlichen Giganten, das sie von sich in der Welt vermitteln wollte, in Teilen zu beschädigen. So wird informell ohne Umschweife bestätigt, dass der Umgang insbesondere mit den geografischen Nachbarn Vietnam, den Philippinen, Japan, Südkorea und auch Indien oft nicht nur unsensibel oder ungeschickt war, sondern ohne Not Konflikte oder Ablehnung provoziert hat. Bestes Beispiel dafür ist das Beharren auf einer Unterwassersandbank auf dem Gebiet der Spratly-Inseln, die ca. 1.800 km vom chinesischen Festland, aber nur 80 km von der Küste Malaysias entfernt liegt. Ebenso redet öffentlich niemand mehr von der „Strategie 2025“, mit der die USA als weltweiter Technologieführer im Jahre 2015 offen herausgefordert wurden. Dass beim letzten Seidenstraßengipfel Mitte Oktober 2023 aber führende Vertreter von ca. 140 Nationalstaaten teilnahmen, spricht für sich. Und dafür, dass die Musik längst woanders spielt, als in einem alternden, zerstrittenen und mit Kriegen an der Peripherie sowie Armutsmigration konfrontierten Europa.

Bereits vor 20 Jahren sagte mir ein chinesischer Kollege zu Be- such in Deutschland, dass der deutsche Kapitalismus offensichtlich sozialistischer sei als der chinesische Sozialismus. Praktisch relevant war das für ihn allerdings zu keinem Zeitpunkt. Der Terminus „sozialistische Marktwirtschaft“ ist nur eine Art Name, der den sich ändernden Status quo auf dem Wege zum Ideal einer „harmonischen Gesellschaft“ beschreibt. Jenseits protektionistischer Maßnahmen im Inland und im Außenhandel lehrt die direkte Beobachtung in China heute wie damals, dass der Kapitalismus bzw. die nicht-soziale Marktwirtschaft in China um einiges härter als bei uns in Deutschland ist. Das größte Buchgeschäft in Shanghai wurde in der Corona-Zeit vom Online-Handel pulverisiert, ebenso wie Hypermärkte von Walmart, Carrefour oder chinesischen Ketten. Gehobene Restaurants schließen mangels Kundschaft, ohne dass die Regierung auch nur einen Finger rührt. Dass China unfair mit uns konkurriert, ist in dieser Pauschalität Unsinn! Tatsächlich gibt es ex- port-subventionierte Branchen (z.B. Solar-Panels), ebenso subventioniert China aber durch Gewinntransfers aus China auch deutsche Gehälter und das nicht nur bei Volkswagen in Wolfsburg und der BASF in Ludwigshafen. Nicht wirklich herumgesprochen hat sich in Deutschland bisher (bei Mercedes, BWM.

Was uns trennt und was uns eint

Die Frage, ob das deutsche oder westliche Konzept des Wandels (was nicht das gleiche ist) durch Annäherung gescheitert ist, ist eher rhetorischer Natur. Dahinter steht die implizite Annahme, dass das „westliche System“ dem chinesischen (wie auch allen anderen, denen wir uns durch Handel annähern wollten) überlegen sei; eine Aussage, der auch die meisten gebildeten und weltoffenen Chinesen nicht zustimmen würden. Ebenso würden sie aber auch nicht behaupten, dass das chinesische dem westlichen System pauschal überlegen sei.

Begriffe wie Partner und Rivale erfordern eine Einordnung bzw. einen Rahmen. Partner lässt im aktuellen politischen Sprachgebrauch zumeist durchscheinen, dass man (wie z.B. auch die Türkei, Indien, Saudi-Arabien oder Katar) den anderen leider brauche und Rivale impliziert im hiesigen Kontext, dass es ein bestes oder besseres Gesellschaftsmodell, nämlich das eigene, gibt, das dieser Rivale dann auch noch attackiert. Bevor wir nicht versucht haben, gemeinsame Grundlagen zu finden und zu entwickeln, ist die Frage „Partner oder Rivale?“ nicht nur verfrüht, sondern auch noch falsch gestellt: China wird, allein aufgrund seiner Größe, ein Partner bleiben müssen, da muss nicht, wie inzwischen üblich geworden, das Weltklima bemüht werden. Zu Partnerschaft gehört aber auch Wissen oder Interesse am anderen und zu letzterem ist es, siehe oben, in der westlichen Welt gerade schlecht bestellt.

Insgesamt täte es uns gut, etwas ehrlicher zu werden. Wenn z.B. von Abhängigkeiten bei Seltenen Erden gesprochen wird, dann sollten wir uns klarmachen, dass der Abbau derselben auch in Deutschland möglich ist. Nur ist das dann eben ein teureres und zudem giftiges Geschäft, das wir bisher gern ausgelagert haben.

Tatsächlich genießt Deutschland in der Betrachtung chinesischer Eliten noch (!) eine Ausnahmerolle. Diese sollten wir nutzen nicht nur um im Gespräch zu bleiben, sondern um die Welt zu einem besseren Ort zu machen und dabei bei uns zu Hau- se beginnen. Weniger abstrakt: Wir müssen in gemeinsamen Projekten (wieder) Chinakompetenz entwickeln.9 Dabei war es noch nie so einfach, nach China zu reisen, wie in der Gegenwart, hat doch die chinesische Regierung für deutsche Staatsbürger eine visafreie Einreise nach China bis zu 15 Tagen zunächst bis zum 30. November 2024 verfügt. Es ist nicht davon auszugehen, dass diese Offerte erwidert wird. Machen Sie sich, solange diese gilt, selbst ein Bild!

Prof. Dr. Dr. h.c. Dirk Linowski

(Foto Eva Heisenberg) ist studierter Mathematiker und promovierter Betriebswirt; seine aktuellen Arbeitsgebiete liegen im Bereich der angewand- ten Ökonomie. Im April 2022 erschien die zweite vollständig überarbeitete Auflage seines Buches „Herausforderungen der Wirtschaftspolitik“ beim UTB-Verlag. Er ist Mitglied der GWE.

  1. Diese Aussage hätte ebenso zu Russland und dem Nahen Osten getroffen werden können.
  2. Fraglos hat die restriktive Zero-Covid-Politik der chinesischen Regierung zu dieser Entfremdung beigetragen.
  3. Wir müssen hier nicht bis nach China gehen. Es gibt nicht einmal eine sinnvolle englische Übersetzung des Begriffes Ordnungspolitik.
  4. Nicht sinisiert wurde das Christentum, das von Kaiser Yongzhen im Jahre 1724 als Antwort auf das Verbot der chinesischen Bräuche durch Papst Clemens XI. ebenfalls verboten wurde. Es dauerte bis zum Jahre 1939, dass Papst Pius XII. dieses Verbot „infolge der veränderten Lage“ wieder aufhob. Man kann das Ergebnis dieses Ritenstreits alsverpasste Chance für die Welt betrachten: Ich tue dies.
  5. Tatsächlich gilt diese Aussage in dieser allgemeinen Form nur für die überwältigende Mehrheit der Han-Chinesen. Vertreter der 55 staatlich anerkannten Minderheiten – ins- gesamt ca. 8 % der Bevölkerung der VR Chinas – werden in historischer Tradition positiv diskriminiert (englisch: affirmative action). Sie sind somit durchaus potenzielle Ziele von (Um-)Erziehung durch die Regierung.
  6. Die oft erwähnten „Sozialkontrollen“ existieren in den unterschiedlichsten Facetten in einem Land, das über die dreifache Bevölkerung der Europäischen Union verfügt und sie sind zumeist positiver Natur (d.h. Belohnung für „Wohlverhalten“).
  7. Eine Diskussion, die in Deutschland bezüglich der sogenannten Generation Z übrigens inhaltlich ähnlich geführt wird (nur eben nicht von der Regierung).
  8. Sie können sehr wohl Individualist sein, ohne dabei einen Widerspruch gegen soziale Bindung und Verpflichtung zu konstruieren!
  9. Zur Zeit tun wir leider das Gegenteil. Die Chinesisch-Deutsche Hochschule in Shanghai muss 2024 mit einer Budgetkürzung in der Größenordnung von 40% gegenüber der „Vor-Corona-Zeit“ weiterarbeiten.

Teile diesen Beitrag mit deinen Freunden

Über uns

Die Gesellschaft zur Förderung von Wirtschaftswissenschaften und Ethik ist ein eingetragener Verein zur Förderung von Forschung und Lehre in den Wirtschafts- wissenschaften auf der Grundlage einer Ethik, die auf dem biblischen Welt- und Menschenbild beruht.

Kontaktieren Sie uns
Gesellschaft zur Förderung von Wirtschaftswissenschaften und Ethik e.V.

Prof. Dr. Christian Müller

Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Scharnhorststr. 100
48151 Münster

E-Mail: info[a]wirtschaftundethik.de

oder   christian.mueller[a]wiwi.uni-muenster.de

Tel.: (02 51) 83 – 2 43 03/ -2 43 09

© 2021 Gesellschaft für Wirtschaft und Ethik e.V. – website by yousay

Impressum   –     Datenschutz