Die Corona-Pandemie entwickelt sich zur größten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen, gesundheitspolitischen und nicht zuletzt kulturellen Herausforderung der Neuzeit. Deutschland und Europa befinden sich im Mai 2021 mitten in der dritten Welle der Pandemie in der begründeten Hoffnung, irgendwann wieder Kontrolle über das Infektionsgeschehen zu erlangen und zur gesellschaftlicher Normalität zurückzukehren. Die Pandemie wirft eine Vielzahl von ethischen Fragen auf. Bei der Frage der Impfstoff-Priorisierung mag noch ein gewisser Konsens möglich sein, wenn zuerst die alten und vulnerablen Gruppen geimpft werden. Aber bei der Frage nach der Triage, also der möglichen Entscheidung über die selektive Behandlung eines Patienten bei begrenzten Intensivbetten und limitierten Beatmungsgeräten, gibt es schon große Unterschiede, auch zwischen den europäischen Ländern. Soll im Extremfall die junge Frau mit noch hoher Lebenserwartung oder aber der mittelalte Mann, der Vater mehrerer Kinder ist, gerettet werden? Man darf den Intensivmedizinern nur wünschen, dass sie möglichst wenige Entscheidungen dieser Art über Leben oder Tod treffen müssen. Die Zustände in Bergamo, dem Synonym für eine völlig überlastete Intensivmedizin in Italien zu Beginn der ersten Welle 2020, sind ein empirischer Beleg für die häufig geäußerte Befürchtung, dass Gesundheitssysteme auch kollabieren können.
Aus einer übergeordneten wissenschaftlichen Perspektive sind die bisher verfügbaren und tatsächlich wissenschaftlich belastbaren Erkenntnisse über die Pandemie über die verschiedenen Wissenschaftsgebiete hinweg begrenzt. Selbst die zentrale Grundfrage, wie das Virus entstanden ist, konnte bisher noch nicht abschließend geklärt werden. Hinzu kommt die beunruhigende Erkenntnis, dass das Virus offensichtlich auch von Menschen auf Tiere übertragen werden kann. Wenn aber selbst die wichtigste aller Grundsatzfragen nach der Entstehung der Pandemie und möglichen Übertragungswegen und Mutationen noch nicht geklärt werden kann, ist es schwierig, präventive wirtschaftliche und politische Maßnahmen für künftige Pandemien zu treffen, die möglicherweise auf Covid-19 folgen könnten.
Nach dem Winter ohne Weihnachtsmärkte
Deutschland befindet sich derzeit in doppelter Hinsicht im Corona-Fieber. Einerseits führen steigende Infektionszahlen zu steigenden Intensivbehandlungen und letztlich auch zu steigenden Mortalitätsraten. Die Kurven sind rein mathematisch aufs höchste korreliert. Andererseits wächst die massive Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den Corona-Maßnahmen der Regierenden. Fühlte man sich in Deutschland im Spätsommer 2020 aufgrund einer OECD-Studie (2020) noch als „Corona-Weltmeister“, der mit niedrigen Infektions- und Sterberaten und vergleichsweise hohen Freiheitsrechten auftrat, so überwiegt am Ende eines langen Winters ohne Weihnachtsmärkte und Winterurlaub der Frust und die Wut auf die vermeintlich handlungsunfähigen Führungseliten.
Auch hier liegt jedoch die Wahrheit eher in der Mitte: Deutschland hat im weltweiten Vergleich ein sehr leistungsfähiges Gesundheitssystem. Bei Inzidenzwerten von unter 50 im Verlauf der ersten Welle wurde das deutsche Gesundheitssystem, im Gegensatz etwa zu Spanien oder Italien, nicht überlastet. Auch am Ende der zweiten und im Verlauf der dritten Infektionswelle steht Deutschland immer noch relativ gut da. Allerdings spielen objektive Tatsachen eine eher untergeordnete Rolle. Wer seit Monaten mit schulpflichtigen Kindern in beengten Wohnverhältnissen festsitzt, vielleicht die Beschäftigung verloren hat, auf sein vollständiges Sozial- und Vereinsleben und natürlich auch auf die liebgewonnene Urlaubsreise verzichten muss, den interessiert nur begrenzt, dass es vermutlich fast allen anderen Menschen in Europa noch schlechter geht.
Eine der wenigen gesicherten Erkenntnisse in der Corona-Forschung ist die den Inzidenzwerten zugrundeliegende Mathematik. Epidemien und Pandemien gehorchen den Gesetzen der Exponentialfunktion, die in vielen Wissenschaftsgebieten verwendet wird, um Wachstums- und Zerfallsprozesse zu erklären. Wie jedoch Nobelpreisträger Robert Shiller (2019) feststellt, sind es eher Narrative und Geschichten, die sich in der Bevölkerung verbreiten und in den Echokammern der sozialen Medien vervielfältigen und weniger objektive Fakten. Für den Kommunikationsprozess in der Demokratie ist es jedoch wichtig, den engen Zusammenhang zwischen Infektionszahlen, Erkrankungen, schweren Verläufen und letztlich Todesfällen zu betonen: Die Kurven hängen unmittelbar voneinander ab ebenso wie die daraus abgeleiteten volkswirtschaftlichen Kosten. Kein Politiker kann wählen, ob er die Gesundheit der Menschen oder die Wirtschaft schützen möchte. Der alte ordnungspolitische Grundsatz des Denkens in Ordnungen findet hier eine neue und ungewöhnliche Anwendung.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt im April 2021 im Verlauf der dritten Infektionswelle sind seriöse Schätzungen über die tatsächlichen volkswirtschaftlichen Kosten der Pandemie noch nicht möglich. Der Rückgang des Konsums, die Zerstörung von Kapital durch Unternehmenskonkurse beziehungsweise unterbrochene Lieferketten, die Zerstörung von Humankapital durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit und vor allem die einbrechenden Steuereinnahmen des Bundes fallen als direkte und messbare Kosten über alle Bereiche der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung hinweg ins Gewicht. Zwar wird der Anstieg der Arbeitslosigkeit durch das Kurzarbeitergeld gemildert, doch kommt es zu einer Entwertung von Humanvermögen, wenn Künstler, Schauspieler oder Leistungssportler über Monate hinweg nicht ihrer beruflichen Tätigkeit nachgehen können.
Die indirekten Kosten
Besondere Aufmerksamkeit verdienen die indirekten und nur schwer messbaren Kosten der Pandemie, so etwa der Anstieg der psychischen Erkrankungen und Depressionen, der Bildungsnotstand, von dem primär Kinder aus bildungsfernen Schichten betroffen sind, Alkohol- und Suchterkrankungen und nicht zuletzt der starke Anstieg von häuslicher Gewalt – primär gegenüber Frauen und Kindern. Auch hier gilt, dass primär einkommensschwache Bevölkerungsschichten betroffen sind, die einfach nicht über Wohnverhältnisse verfügen, um sich soziale Distanz leisten zu können.
Wirtschaftshistorisch gab es eine vergleichbare weltweite Herausforderung in dieser Form noch nie. Auch Vergleiche mit der Spanischen Grippe, der Weltwirtschaftskrise 1929 und der Nachkriegssituation 1945 müssen unvollständig bleiben. Covid-19 trifft auf eine hochgradig vernetzte und globalisierte Weltwirtschaft. Allein in Deutschland ist die Zahl der Fluggäste von 2001 bis 2019 von 140 Millionen auf ca. 247 Millionen angestiegen – mit Zielen in der ganzen Welt. Die größten deutschen DAX-Unternehmen sind praktisch in allen Ländern dieser Welt vertreten. Corona ist eine globale Krise, die letztlich auch nur durch internationale Kooperation entschärft werden kann.
Nach den Erkenntnissen der ökonomischen Glücksforschung sind es über alle Einkommensschichten hinweg soziale Kontakte, Freunde, Familie, Vereinsleben und Partizipation, die zu einem glücklicheren Leben beitragen. Die zur Pandemiebekämpfung notwendige soziale Distanz macht Menschen unglücklicher, einsamer und weniger zufrieden. Aus dieser Sicht ist zumindest verständlich, warum die Durchsetzung von Corona-Regeln in einer offenen und demokratischen Gesellschaft so schwierig ist.
Bis zu 57 Milliarden Euro pro Woche
Die genaue Quantifizierung der volkswirtschaftlichen Kosten ist nur schwer möglich. So schätzt das Bundesministerium für Wirtschaft für Wirtschaft die bisher angefallenen Kosten auf ca. 1,1 Billionen Euro. Der Bund plant eine Nettokreditaufnahme für 2021 von 218,5 Mrd. Euro, was einem Defizit von 7,25 Prozent des Maastricht-Kriteriums entspricht: Ein absoluter historischer Rekordwert. Das Ifo-Institut in München versuchte die Kosten mit Hilfe eine Szenario-Technik für sechs verschiedene Konstellationen zu schätzen (Ifo-Schnelldienst 4/2020). Zudem unterscheiden die Forscher die unmittelbaren Kosten während des Shutdowns sowie die zukünftigen Kosten für den Postshutdown, für die Phase des Wiederanlaufens von Wirtschaft und Gesellschaft. Auf der Basis dieser methodisch interessanten Vorgehensweise schätzt das Ifo-Institut die Kosten für eine Woche Shutdown auf ca. 25 bis 57 Mrd. Euro. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen ist zu vermuten, dass eher der obere Wert der Schätzung die Realität abbildet.
Die Kosten der Corona-Krise übersteigen finanzwissenschaftlich jede bisherige Herausforderung, weshalb der Vergleich zum Kriegslastenausgleichsfonds wirtschaftshistorisch angemessen ist. Der Staat hat zur Finanzierung grundsätzlich nur vier Möglichkeiten: Erstens kann er die Staatsausgaben senken, was aber in der gegenwärtigen Situation wirtschaftlich nicht zu empfehlen und politisch nicht durchsetzbar wäre. Zweitens könnten die Steuern erhöht werden, was aber die gegenwärtige Wirtschaftskrise noch weiter verschärfen und pro-zyklisch wirken würde. Drittens könnte die Staatsverschuldung erhöht werden – angesichts von mehreren Jahren mit ausgeglichenem Staatshaushalt und „schwarzer Null“ bestehen hier durchaus gute Möglichkeiten. Und viertens könnte der Rückzahlungszeitraum für die Staatsverschuldung gestreckt werden. Ordnungspolitisch entfallen die Möglichkeiten 1 und 2, lediglich 3 und 4, also die Finanzierung über den Kapitalmarkt, erscheint praktikabel und empfehlenswert.
Allerdings wird in der politischen Debatte der sich anbahnenden Bundestagswahl zunehmend über die Erhöhung der Einkommensteuer, der Erbschaftsteuer, der Wiedereinführung der Vermögensteuer und der grundgesetzlich möglichen Vermögensabgabe diskutiert. Häufig werden auch (wirtschafts-) ethische Argumente vorgebracht, aber es drängt sich in der politischen Debatte doch der Eindruck auf, dass hier Corona als Vorwand genommen wird, um alte ideologische Verteilungsfragen neu zu entfachen. Deutschland ist schon heute mit 43 Prozent Spitzensteuersatz ein absolutes Hochsteuerland mit zudem sehr hohen Verbrauchsteuern. Die Einnahmen des Bundes aus der Erbschaftsteuer betrugen 2019 ca. 8 Milliarden Euro. Selbst eine Verdoppelung der Erbschaftsteuer – politisch und ethisch sehr bedenklich – würde die Steuereinnahmen vielleicht auf ca. 16 Mrd. Euro anheben. Angesichts der geschätzten Kosten von ca. 25 bis 57 Mrd. Euro pro Woche höchstens ein Tropfen auf den heißen Stein. Besonders umstritten ist die Einführung einer Vermögensteuer, die ja mehrfach vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mit sehr komplexen rechtlichen Begründungen als verfassungswidrig abgelehnt wurde. Etwas anders sieht die Bewertung bei der Vermögensabgabe aus, die ja mit dem sog. Wehrbeitrag (1913), dem Reichsnotopfer (1919) und dem Lastenausgleichsgesetz nach 1945 historische Vorläufer hat und die zudem grundgesetzlich verankert ist. Allerdings ist auch von dieser Maßnahme ordnungspolitisch abzuraten, da es angesichts offener Grenzen zu vielfältigen Vermögensverlagerungen ins Ausland käme, der volkswirtschaftliche Kollateralschaden also vermutlich sehr hoch wäre.
Die europäische Dimension
Offene Grenzen sind gerade für Deutschland eine besondere Errungenschaft, denn das Land hat mit neun Nachbarländern unmittelbare und direkte Grenzen. In den Grenzregionen, etwa zu Polen, Frankreich, Luxemburg oder den Niederlanden, gibt es zahlreiche Berufspendler, die in dem einen Land leben und dem anderen Land arbeiten und täglich eine nicht mehr vorhandene und nicht mehr spürbare Grenze überschreiten. Schaut man sich die innereuropäischen Handelsbeziehungen an, so fällt auf, dass die unmittelbaren Nachbarn Deutschlands zugleich die wichtigsten Handelspartner sind, und zwar sowohl bei den Ex- wie auch den Importen. Zwar sind aus deutscher Sicht die USA die größte Exportdestination und China der größte Importeur. Aber die Basis des deutschen Außenhandels sind primär die Partner in der Eurozone. Deshalb gilt sowohl für die wirtschaftliche Erholung wie auch für die Pandemie-Bekämpfung, dass ein Erfolg nur in enger Zusammenarbeit mit den europäischen Partnern erzielt werden kann.
Auch die EU hat zur Pandemie-Bekämpfung das in ihrer Geschichte größte Hilfspaket für die Mitgliedsstaaten auf den Weg gebracht. Die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts, ordnungspolitisch das Rückgrat der EU-Verträge, wurde temporär ausgesetzt. Der Finanzrahmen 2021-27 wurde auf 1.074,3 Mrd. Euro ausgeweitet. Hinzu kommt ein „Next Generation EU Sonderfonds“ mit noch einmal 750 Mrd. Euro, so dass die EU mit insgesamt 1,8 Billionen Euro Hilfsgeldern versucht, der Krise entgegenzuwirken. Auf Druck der sog. „sparsamen Fünf“ (Niederlande, Österreich, Dänemark, Schweden, Finnland) wurde nur ein Teil der Gelder als direkte und nicht rückzahlbare Unterstützung gewährt. Der andere Teil der Hilfszahlung wurde in Kreditform gewährt und muss ab 2027 bis 2058 zurückgezahlt werden.
Wenn es jemals einen „Keynesianischen Moment“ in der Wirtschaftsgeschichte gab, der die Schuldenaufnahme und staatliche Hilfspakte erforderte, dann war es wohl der Ausbruch der Corona-Pandemie. Wie aber mittel- und langfristig der Weg zurück zu Ausgabendisziplin und ausgeglichenem Staatshaushalt gefunden werden kann, dürfte die größte ordnungspolitische Herausforderung für die kommende Generation sein. Gleichzeitig hat die EU auch beschlossen, neue Einnahmequellen zu erschließen, von der Erhöhung der EU-Eigenmittel über die Einführung einer Plastik-Steuer von ca. 80 Cent pro KG Plastikmüll (800 Euro pro Tonne Plastik) über die umweltpolitisch zweckmäßige CO2-Steuer, eine Digitalsteuer sowie eine Einbeziehung von Zugreisen und Schiffsreisen in den Umwelt-Zertifikate-Handel. Grundsätzlich ist es noch zu früh, diese Maßnahmen abschließend zu bewerten. Allerdings ist es angesichts der umwelt- und klimapolitischen Herausforderungen der EU „nach Corona“ sicherlich zweckmäßig, zukünftige fiskalpolitische Instrumente stärker mit Umweltzielen zu verknüpfen.
Licht am Ende des Tunnels?
Ohne Zweifel stößt die physische und psychische Belastbarkeit der Bevölkerung in Deutschland nach fast 13 Monaten Lockdown an ihre Grenzen. Der exponentiellen Infektionskurve kann aber dauerhaft nur eine lineare Impfkurve entgegenwirken. Erst ein R-Wert, der dauerhaft kleiner als Eins ist, kann aus der Wachstumskurve eine Zerfallskurve machen. Dies setzt aber das Vorhandensein ausreichender Mengen an Impfstoff voraus, dem materiellen Engpassfaktor in der Pandemie-Bekämpfung.
Das Spannungsverhältnis zwischen Freiheitsrechten und den Notwendigkeiten der Pandemie-Bekämpfung ist offensichtlich: Allerdings ist nicht zu erkennen, warum eine freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung grundsätzlich in Gefahr wäre. Wenn eine Naturkatastrophe, ein Tsunami oder ein Tornado auf die Bevölkerung zurollt, gilt zunächst einmal die Priorität für die unmittelbare Gefahrenabwehr. Diese ist vor allem dann schwierig, wenn es noch keinerlei Erfahrungswerte mit bestimmten Katastrophen gibt – wie eben der Corona-Pandemie. Es besteht jedoch Anlass zu der Annahme, dass die demokratischen Institutionen in Deutschland und Europa stark genug sind, um nach der Pandemie wieder zu geordneten Verhältnissen zurückzukehren.
Prof. Dr. Dirk Wentzel lehrt Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Pforzheim.