1. Einleitung: ‚Wie die andere Hälfte lebt‘
Im Jahr 1890 wurde die Skandalisierung der Armut auf eine neue Ebene gehoben. Jacob Riis war 1870 aus Dänemark in die USA eingewandert und arbeitete nach zwanzig schwierigen Jahren nun als Polizeifotograf und hatte sich zudem dem Christentum zugewandt. Im Jahre 1890 veröffentlichte er – gleichsam aus dem Nichts – sein berühmtes Buch „How the other half lives“ (Riis 1890/1998), in dem er die soziale Lage der Working Poor in New Yorks Lower East Side in Fotos und Texten dokumentierte. Vor allem seine Fotos vom Alltag der einfachen Menschen in ihren Wohnquartieren und elenden Behausungen sind berühmt geworden und zählen in ihrer bescheidenen Unmittelbarkeit zu den frühen Ikonen der Sozialfotografie.
Zudem ist der Titel des Buches genial; er nennt die Armut nicht beim Namen und er ist auch sonst nicht marktschreierisch. Gerade seine Zurückhaltung hat einen starken Effekt und wirft Fragen auf: Wer sind diese anderen? Sind sie wirklich die andere Hälfte, also fünfzig % der Bevölkerung? Oder sind sie unsere Schatten, die wir sorgsam übersehen? Wie leben diese Menschen unter uns? Wie kann es sein, dass es in Deutschland Obdachlosigkeit gibt?
Antworten auf diese Fragen sind schwierig zu formulieren, da die Forschung zur Armut und erst recht zur Obdachlosigkeit kompliziert ist. Hier geht es zum einen um Definitionsprobleme, die immer auch einen normativen Aspekt haben und daher nicht abschließend im Konsens unterschiedlicher Weltanschauungen gelöst werden können (Was ist Armut? Was ist eine Armutsgrenze? Welche Dimensionen der Unterversorgung sind ab wann relevant? Was ist Wohnungslosigkeit? Was ist Obdachlosigkeit?). Die Lage ist kompliziert und diese Komplexität taugt – das wusste bereits Luhmann (1996) – nicht zur Skandalisierung. Simple 50 % von Armut betroffener Personen an der Gesamtbevölkerung wird man heute in Deutschland sicher nicht unterstellen können; gleichwohl ist die Lage skandalös.
2. Das statistische Bild der Armut in Deutschland
Wichtige Bezugspunkte der modernen Diskussion sind – als pragmatischer Konsens unter Fachleuten aus Wissenschaft und Politik – die internationalen Definitionen durch EU und OECD und deren angegliederte Fachgremien. So geht man heute davon aus, dass Armut ein mehrdimensionales Phänomen ist, welches Unterversorgungen in sechs wichtigen Dimensionen der Lebenslage (Einkommen, Bildung, Wohnung, Arbeit, Gesundheit, Partizipation), insbesondere aber des Einkommens bezeichnet und dass die zugehörige Armutsgrenze relativ, d.h. bezogen auf das mittlere, nationale, gewichtete Netto-Pro-Kopf-Einkommen privater Haushalte gemessen wird.
So gemessen, hat Deutschland aktuell eine Armutsrisikoquote, definiert als maximal 60 % des oben definierten Median-Äquivalenzeinkommens, von ca. 14 % im Jahr 2023 = 12 Mio. Menschen (Statistisches Bundesamt 2024), was – übrigens seit vielen Jahren – ziemlich exakt im Durchschnitt der OECD-Länder liegt. Bedingt durch ihr sozialstaatliches System haben skandinavische Länder traditionell geringere Armutsquoten, während die mediterranen Länder überdurchschnittliche Armutsquoten aufweisen.
Die Wohnungslosigkeit ist eine Form der extremen Armut, da die hiervon betroffenen Personen über keinen eigenen, d.h. durch sie mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügen, sie sind also in der Dimension ‚Wohnen‘ deutlich unterversorgt. Am häufigsten leben diese Menschen in Notunterkünften, wo sie behördlich aufgrund besonderer Lebensumstände untergebracht werden. Dies sind einerseits Wohnungsnotfälle der deutschen Bevölkerung sowie Unterbringungen geflüchteter Menschen, die einen sehr unterschiedlichen rechtlichen Aufenthaltsstatus haben können. Wohnungslosigkeit trifft im Jahr 2023 auf 440.000 Personen = ca. 6 % der Bevölkerung zu. Dieser Wert ist in den letzten Jahren aufgrund der zunehmenden Wohnungsnot und multipler privater Problemlagen, vor allem aber aufgrund der Zuwanderung geflüchteter Personen, sehr stark angestiegen. Wichtig ist dabei allerdings zu wissen, dass die wohnungslosen Personen zwar über keine eigene, mietvertraglich abgesicherte Wohnung verfügen, sehr wohl jedoch in der Notunterkunft täglich ‚ein Dach über dem Kopf‘ haben.
Obdachlosigkeit bezeichnet exakt nun jene Gruppe von Menschen, die ‚auf der Straße‘ leben und dort in sehr unterschiedlicher Form ‚wohnen‘; als aktuelle empirische Studie mit Blick auf mehrere Dimensionen und insbesondere das Raumnutzungsverhalten sei die Arbeit von Sellner/Schönig/Heuel (2024) zu empfehlen. Da diese Personen nicht behördlich untergebracht sind, kann ihre Zahl auch amtlich nur geschätzt werden. Der Wert liegt für 2023 bei ca. 50.000 Personen (= 0,4 % der Bevölkerung in Obdachlosigkeit (BAGW 2024)). Die Obdachlosigkeit konzentriert sich auf die größeren Städte und ist in den Innenstädten und Bezirkszentren deutlich sichtbar. Auch diese Zahl ist in den letzten Jahren von zuvor ca. 35.000 Personen gestiegen. Rein statistisch würden damit auf jede der 82 deutschen Großstädte ca. 600 obdachlose Menschen entfallen, dabei müssten natürlich die Obdachlosen auf dem Lande und in kleineren Städten abgezogen werden. Für Köln liegt die kommunale Schätzung, sie basiert auf der Unterbringung in Notschlafstellen, dem Lagebild von Ordnungsamt und Street Work sowie der Nutzungsfrequenz anderer Hilfeeinrichtungen, aktuell bei etwas über 500 Personen, was überraschend genau dem simplen obigen Schätzwert entspricht. Die Innenstadt wird aufgrund dieser Konzentration – wie auch in anderen Großstädten – nicht nur als touristische Sehenswürdigkeit, sondern auch als soziales Armutsgebiet wahrgenommen. Zumindest existieren ‚soziale Brennpunkte‘, in denen sich obdachlose Menschen schwerpunktmäßig aufhalten.
3. Binnenstruktur und Problematik der Obdachlosigkeit
Die Lebenserwartung von Männern in Obdachlosigkeit beträgt nach einer neueren Schätzung in Hamburg ca. 49 Jahre (Hinz und Kunzt 2024) und liegt somit 30 Jahre unter dem Bundesdurchschnitt – sie liegt damit immer noch 10 Jahre unter der Lebenserwartung in den ärmsten Entwicklungsländern. Für Frauen, welche ca. 20 % der obdachlosen Menschen ausmachen und die zudem andere Problemlagen und auch andere Bewältigungsmuster (Böhnisch 2020) aufweisen, sind die Daten etwas günstiger, jedoch immer noch verheerend. Offensichtlich existiert am unteren Rand unserer Gesellschaft eine „urban underclass“ (Wilson 1987), eine Problematik extremer Armut, auf die unser Sozialstaat, trotz enormer Anstrengungen der Kommunen und Wohlfahrtsverbände, keine adäquate Antwort weiß. Zumindest in den Großstädten ist dieser Skandal ein öffentliches und politisches Thema.
Dabei wird man der Obdachlosigkeit nur begegnen können, wenn man von ihren Ursachen ausgeht (Schönig 2017). Menschen in Obdachlosigkeit haben sehr unterschiedliche Problemlagen und Bewältigungsmuster. Sie reichen von einem – freilich seltenen – souveränen, selbstgewählten Lebensstil freiwilligen Aussteigens über eine große Zahl mittelschwerer Fälle multipler Exklusion (Schönig 2015; Kronauer 2010) bis hin zu Fällen dramatischer, lebensbedrohlicher Verelendung.
Oftmals lösen Zäsuren im privaten Leben von Mittelschichtsangehörigen eine Kette von Problemen aus (z.B. Trennung von der Ehefrau ⇒ Drogenkonsum ⇒ Verlust Arbeitsplatz ⇒ Verlust Wohnung ⇒ Verlust Umgangsrecht mit Kindern ⇒ Kriminalität ⇒ Inhaftierung ⇒ Obdachlosigkeit nach Haftentlassung ⇒ chronische Erkrankungen usw.). Oftmals leben auch Personen auf der Straße, die schon als Kinder in zerrütten Verhältnissen aufgewachsen sind und nur vorübergehend, wenn überhaupt, ein bürgerliches Leben geführt haben. Jede dieser Biografien ist unterschiedlich, diese Menschen kämpfen sich alltäglich durch ihre harten Lebensbedingungen und leisten dabei eine beachtliche Bewältigung ihres Alltags. Sie organisieren sich Schlaforte (unter Brücken, in Parks, in Eingängen auf Zeltplätzen), gehen arbeiten (Betteln, Flaschen sammeln, Zeitungen verkaufen, Dealen), organisieren Lebensmittel (in Einrichtungen, in der Tafel und auch durch Einkauf) und Hygiene (in den Einrichtungen), suchen Geselligkeit und Erholung u.a. Hilfeangebote seitens der Sozialen Arbeit versuchen, beginnend beim Streetwork bis zum ambulant betreuten Wohnen, die Menschen schrittweise wieder in die Gesellschaft zu integrieren, vereinzelt geht man auch den umgekehrten Weg eines Housing First und betreut die Menschen direkt in einer Wohnung und setzt dort die Hilfeangebote an.
Von besonderer Dramatik ist in den letzten Jahren die Zuwanderung obdachloser Personen aus den EU-Beitrittsländern Ost- und Südost-Europas. Sie sind legal im Lande, waren in Deutschland jedoch nicht erwerbstätig und haben daher keinen Anspruch auf längerfristige, konzeptionell anspruchsvolle Hilfen. Vielmehr werden diese Menschen z.B. bei gesundheitlichen Problemen (Bewusstlosigkeit nach Drogenkonsum, offene Wunden mit Madenbefall, Knochenbrüche u.ä.) aus humanitären Gründen akut medizinisch behandelt, erhalten jedoch z.B. keinen Therapieplatz, obwohl häufig schwerster Abusus vorliegt. Die Kommunen sind angesichts dieser Armutsmigration, die als offensichtliche Verelendung mit erheblichem Kriminalitäts- und Aggressionspotential in Bahnhöfen und Einkaufsstraßen sichtbar ist, insgesamt ratlos: Helfen die Kommunen diesen Personen – ohne Refinanzierung des Systems sozialer Sicherung – umfassend, so ist eine Folgemigration zu befürchten und die Lage würde eher noch schlimmer. Beschränken die Kommunen ihre Hilfe auf ein Minimum, so wird diese Verelendung weiter die Innenstädte noch unattraktiver machen. Eine ‚Lösung‘ des Problems ist auf kommunaler Ebene unmöglich und so ist hier die europäische Ebene gefragt, wo das Problem auch verursacht wurde.
4. Zusammenfassung
Die Theorie und Politik der Armut in Zeiten sozialer Polarisierung sind kein einfaches Geschäft – das Thema ist normativ aufgeladen, kontrovers und komplex. Aus der Komplexität ergeben sich immer wieder neue Themen und Herausforderungen, zugespitzt in der Frage, wie sich heute eine authentische Option für die Armen umsetzen und kommunizieren lässt.
Eine klare Positionierung ist geboten, steht man doch dem Befund einer sich polarisierenden Gesellschaft mit komplexer Armutsproblematik seitens der Politik weitgehend ratlos gegenüber. Insbesondere zeigt sich eine Zuspitzung der Armutsproblematik in Fällen extremer Armut bis hin zur Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Politik und Wissenschaft sollten daher nicht der Versuchung einer Mittelschichtsperspektive mit Fokus auf vergleichsweise unproblematische Fälle erliegen, sondern sich explizit und konzentriert mit dem deutlich schwierigeren Phänomen einer verfestigten, mehrdimensionalen Armut befassen.
Während im Regelfall der Menschen in Obdachlosigkeit Ansprüche an das System der sozialen Sicherung bestehen und hierauf aufbauend für die einzelne Person stufenweise sehr aufwendige Hilfepläne ansetzen können, besteht diese Möglichkeit bei den neuen Armutsmigranten aus den Ländern Osteuropas nicht. Solange die europäische Ebene wegschaut, wird die bundesdeutsche offene Gesellschaft auch weiterhin und sogar zunehmend mit dem Skandal extremer Armut leben müssen.
LITERATUR:
- Böhnisch, Lothar (2010): Lebensbewältigung. Ein sozialpolitisch inspiriertes Paradigma für die Soziale Arbeit. In: Thole, Werner (Hrsg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. 3. Auf., Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 219 – 233.
- Deutschlandfunk (2024): Leben auf der Straße. Ursachen von Obdachlosigkeit. Verfügbar unter https://www.deutschlandfunk.de/ursachen-obdachlosigkeit-wohnungslosigkeit-100.html
- Hinz und Kunzt (2024): Warum Obdachlose früher sterben. In: https://www.hinzundkunzt.de/lebenserwartung-obdachlose/
- Kronauer, Martin (2010): Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. 2. Auf. Frankfurt/New York: Campus.
- Riis, Jacob A. (1890/1998): How the other half lives. London: Penguin.
- Schönig, Werner (2015): Warum sind arme Leute arm? Armutstheorien und ihre sozialpolitischen Konsequenzen. In: Romahn, Hajo; Rehfeld, Dieter (Hrsg.): Lebenslagen – Beiträge zur Gesellschaftspolitik. Jubiläumsschrift zum 50jährigen Bestehen des Instituts für beratende Sozial- und Wirtschaftswissenschaften – Gerhard-Weisser-Institut. Marburg: Metropolis, S. 129 – 151.
- Schönig, Werner (2017): Armut im entwickelten Sozialstaat. Aktualität, Binnenstruktur und politische Perspektiven. In: Speelman, Willem Marie; Hilsebein, Angelica; Schmies, Bernd; Schimmel, Thomas M. (Hrsg.): Armut als Problem und Armut als Weg. Münster: Aschendorf, S. 227 – 253.
- Statistisches Bundesamt (2024): Pressemitteilung vom 10. April 2024. Verfügbar unter https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/04/PD24_147_63.html
- Wilson, William J. (1987): The truly disadvantaged. The inner city, the underclass, and public policy. Chicago: University of Chicago Press.