Gesellschaft für Wirtschaft und Ethik

Wertschätzung

Anerkennung, Aufmerksamkeit, Beurteilung, Empathie, Offenheit – oder einfach nur nett sein. All dies wird mit Wertschätzung verbunden, trifft aber nicht dessen Kern.

Als Teil eines Beraterverbundes, dessen Claim „weil wir wertschätzen“ lautet, begegne ich der Wertschätzung seit Jahren im wirtschaftlichen Bereich sehr bewusst, zumal das Unternehmen 1986 aus dem Kommentar, dass man mit den Regeln der christlichen Seefahrt kein Piratenschiff führen kann, erdacht wurde. Nähern wir uns systematisch der Wertschätzung hilft eine Differenzierung, wem oder was ich Wertschätzung entgegenbringe? Es gibt Unterschiede, ob die Wertschätzung sich auf mich selbst, auf einen Mitmenschen, auf eine Beziehung, auf eine Gruppierung, auf eine Organisation, auf unsere Umwelt oder auf Ideelles oder Materielles bezieht.

Selbstwertschätzung mag dem einen oder der anderen zu egoistisch erscheinen, ist aber notwendige Bedingung, um überhaupt in seinem Umfeld Wertschätzung zu leben. Unser Wert als Mensch ist situationsunabhängig, ist Geschenk, kann verletzt werden aber nicht verlorengehen. Für Anselm Grün ist der, der um seinen Wert weiß, auch in der Lage, sich über den Wert des anderen zu freuen. Ein gesunder Selbstwert schenkt die Freiheit, sich auf sein Umfeld einzulassen. Wer allerdings nur um sich selbst kreist, vermag dies nicht. Das Wissen um die gesetzlich festgeschriebene Anerkennung der Menschenwürde (Art. 1 GG) reicht nicht aus (insb. wenn sie nur als Recht gesehen wird). Meinem Gegenüber verleihe oder gewähre ich keine Würde, sie steht nicht in meiner Dispositionsmacht sondern existiert. Diese unantastbare Würde meines Gegenübers muss mir bewusst sein, damit Wertschätzung nicht zum Mittel wird, das einen gewünschten Zweck instrumentalisiert. Sehr subtil ist dies gerade in der Wirtschaft zu erleben, was ein FB-Poste wie folgt skizziert: „Jeder redet von Respekt, Ehrlichkeit, Menschlichkeit und Loyalität. Aber in Wirklichkeit gönnt niemand dem anderen die Butter auf dem Brot!“.

Gelebte Wertschätzung

Generell können wir die goldene Regel der praktischen Ethik bzw. den Appell aus Matthäus 7, 12 „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!“ zur Grundlage unserer Wertschätzung machen.


Spannend wird es da, wo es um den konkreten Mitmenschen geht. Pelluchon spricht „von einer Harmonisierung von Denken und Handeln, von Rationalität und Emotionen, aber auch von einem Zusammenspiel unserer Fähigkeiten“. Bringe ich Achtung und Respekt auf, wenn ich ihr oder ihm in der realen oder virtuellen Welt begegne? Wie trete ich, etwa bei einer Tagung oder einer Party auf? Meine Devise: Sei bewusst flexibel, ob es bei Begegnungen zuerst um einen Blick in das Leben meines Gegenübers geht, indem er sich mir gegenüber öffnet, oder ob ich ihm alternativ etwas zu meiner Person erzähle. Entscheidend ist, ob ich meinem Gegenüber Beachtung schenke, ihm meine ungeteilte Aufmerksamkeit widme statt bereits mit den Augen den nächsten (interessanteren) Gesprächspartner zu suchen, bzw. ob mein Gegenüber mir seine Aufmerksamkeit schenkt. Wer kein Interesse an seinem Gegenüber hat, ist auch nicht in der Lage, ihm echte Wertschätzung zu schenken. Die Wertschätzung in direkten Begegnungen ist für mich noch mehr! Ich empfinde sie, wenn es dazu kommt, dass mein Gegenüber nach einem Einblick in sein Leben, aktiv nach meinem Leben fragt, bzw. wenn er sich öffnet, nachdem ich im Anschluss an den Blick in mein Leben, ihn nach seinem Leben frage. Gegenseitiges Interesse ist ein Geschenk für die Seele, das ich unter dem ersten Teil meines Lebensmottos „Sei ein dankbarer Genießer …“ verbuche. Dieses echte Interesse ist für mich ein wesentlicher Faktor gelebter Wertschätzung. Und losgelöst davon, wie Sie als Leser mit dem Begriff der Wertschätzung umgehen, möchte ich Sie animieren, in Ihren Begegnungen auf dieses gegenseitige Interesse zu achten! Dabei geht es nicht darum, Interesse am Gegenüber vorzuspielen. Wer nicht in der Lage ist, echtes Interesse zu leben, sollte besser darauf verzichten. Beziehungen sind dafür zu wertvoll!


Für mich ist das Maß an Interesse, das ich einer Person entgegenbringe, zum Gradmesser meiner Wertschätzung geworden. Und, sofern es sich um Kontakte handelt, bei denen ich mitentscheide, ob daraus eine nachhaltige Beziehung wird (Freundschaft, Kundenbeziehung, Vereinskameradschaft, …) wird diese Gegenseitigkeit, die Begegnung auf Augenhöhe, zu einer Kraftquelle. Ich bin davon überzeugt, dass wir alle zumindest einige so geartete Beziehungen für ein gelingendes Leben brauchen.

Die 3U-Gefahren der Wertschätzung

Da, wo im Alltag Wertschätzung erlebt wird, entsteht oft zeitgleich eine Art Unsicherheit, wenn der Wertgeschätzte die innere Motivation des Wertschätzenden hinterfragt. Wie Vieles kann auch Wertschätzung instrumentalisiert oder mißbraucht werden. Bei Mediationen wird darauf geachtet, welche Absicht, welches Interesse hinter einer Position steckt. Das passiert (unbewusst) auch bei Wertschätzungen. Diese Unsicherheit ist gerade bei unseren wirtschaftlich relevanten Aktivitäten nicht ausblendbar, da wir zum Eigennutz bereits von Adam Smith gelernt haben, dass jeder danach strebt, seine ökonomische und gesellschaftliche Situation zu verbessern. Was hilft, um diese Unsicherheit zu reduzieren? Schauen Sie genau hin, wie Wertschätzung passiert. Ihre Beziehungen bieten eine Bandbreite an Anschauungsmaterial. Ich persönlich reagiere sehr sensibel auf vertriebliche Tricks oder Methoden, die Wertschätzung benutzen bzw. kanalisieren, oder auf Begrifflichkeiten – wenn auch gut gemeint –, die Wertschätzung als ´Wunderwaffe´ oder als ´Treibstoff für Erfolg´ bezeichnen.


Eine weitere Gefahr der Wertschätzung heißt Überforderung. Die Chefin unter Druck oder der Berater, dessen Fokus auf der fachlichen Lösung liegt, können dazu neigen, wertschätzendes Verhalten – selbst wenn sie es generell bejahen – außer Acht zu lassen. Denn Wertschätzung ist eine Zeitinvestition und lässt sich meist nicht auf sachlich-fachliche Aspekte beschränken. Auch wenn das Gegenüber die Wertschätzung einfordert (was für mich zu den falschen Appellen, wie „Sei spontan!“ gehört), wird echte Wertschätzung schwierig.

Und auch die Gefahr, durch die Wertschätzung ein Urteil über den Adressaten zu fällen, ist ganz real. Wertschätzung als Beziehungsarbeit Die Organik, die sich rund um den Kohlenstoff mit der lebendigen Chemie beschäftigt, nutzt Strukturformeln, um aufzuzeigen, wie sich Atome über Einfach-, Doppel- oder Dreifachbindungen zu Molekülen verbinden. Die Mehrfachverbindungen sind dabei sehr reaktiv und daher instabiler, obwohl man denken würde, dass eine Mehrfachbindung zu einer Verstärkung der Verbindung führt. Bei menschlichen Beziehungen kann diese erhöhte Reaktivität auch bestehen. Wenn wir mit Menschen in mehrfacher Hinsicht verbunden sind (was die Wichtigkeit dieser Beziehung generell erhöht), ist die Gefahr, dass die gesamte Beziehung zerstört wird, deutlich größer als bei Einfachbindungen. Vermutlich erhöhen sich die potenziellen Angriffspunkte bei menschlichen Mehrfachbindungen. Um diese Gefahr zu vermeiden, gehört zur Wertschätzung die Bereitschaft und Fähigkeit, Verbindungsarten auseinanderzuhalten. Bei einer Dreifachbindung (etwa zwei Geschwister, die sowohl im Familienunternehmen als auch im Sportverein Verantwortung tragen) kann auf mehreren Ebenen Konfliktpotenzial entstehen. Mit einer wertschätzenden Haltung wird es möglich, Konflikte zu verorten und im Sinne von Amartya Sen nicht von einer singulären Klassifikation auszugehen, sondern dass mein Gegenüber viel mehr ist als das, womit ich gerade ein Problem habe. Grenzen der Wertschätzung im Bereich der Konfliktklärung liegen allerdings da, wo die Bereitschaft bzw. Fähigkeit zur Beziehungs- und Konfliktanalyse sowie zur Reflektion nicht vorhanden sind. Auch eine kallistische Sichtweise ist für die praktische Wertschätzung von Vorteil.


Wertschätzung als Schmierstoff

Jeder hat täglich Gelegenheiten, Wertschätzung in seinen Alltag einzubauen. Wer mit ehrlich gemeinten Wertschätzungsakzenten beginnt, etwa bei der Verfassung seiner Emails, kann sogar Spaß daran bekommen, seine Kreativität für gut dosierte wertschätzende Impulse in seinem Umfeld einzusetzen. Für mich ein Ansporn, um den zweiten Teil meines Lebensmottos „Sei … ein sensibler Nutzenstifter!“ zu leben. Wertschätzungen leisten so ganz wichtige Beiträge für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. So hoffe ich, dass dieser Artikel für Sie die Wertschätzung greifbarer und attraktiver gemacht hat. Falls nicht, schauen Sie sich mal die Begegnungen von Jesus Christus an, dem Profi schlechthin für gelebte Wertschätzung. Und: Mein Kompliment, dass Sie zu denen gehören, die diesen Artikel bis zum Ende gelesen haben!

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Westfälische Wilhelms-Universität Münster
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